Hexengold
In der letzten Nacht hatte sie zwar über dasselbe gegrübelt, doch davon sollte Carlotta nichts merken. »Erstens sind die drei gar nicht so viel älter als dein Vater. Nur weil sie schon graue Haare und lange Bärte haben und dickere Bäuche mit sich herumschleppen, sind sie noch lange keine Greise. Auch hat das Alter seine Vorzüge. Man wird besonnener. Die drei sind mindestens genauso erfahrene und viel gereiste Kaufleute wie dein Vater. Gerade die Strecke nach Italien kennen sie wie kaum jemand sonst hier aus Frankfurt.«
»Aber sie sind weitaus langsamer. Mit Onkel Vinzent ist Vater schnell vorangekommen. Lebte er noch, würden sie in drei Tagen in Würzburg sein und Mitte nächster Woche in Nürnberg. Es wäre keine Frage, dass sie als eine der Ersten Italien erreichten und dort günstige Preise aushandelten.«
»Man darf sich nicht immerzu an die Vergangenheit klammern, mein Kind.« Einen Moment horchte Magdalena der eigenen Stimme nach. »Vinzent ist tot, daran gibt es nichts zu rütteln. Bei einer Handelsreise geht es außerdem nicht allein um Geschwindigkeit. Dein Vater wird mit seinen neuen Gefährten seine Ziele genauso erreichen und wohlbehalten zu uns zurückkehren wie früher mit Onkel Vinzent.« Sie strich Carlotta über die rotblonden Locken und lächelte.
»Schau, der Bernstein bringt ihn immer wieder zu mir zurück.« Dicht hielt sie den honiggelben Stein vor Carlottas Gesicht. Die aber schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Dir fehlt Ablenkung, mein Kind. Warum sortierst du nicht die restlichen Karten, die dort liegen«, schlug Magdalena vor und wies auf den großen Eichenholztisch. »Das Geschäft muss weitergehen. Wir haben viel zu tun, um es im Sinn deines Vaters weiterzuführen. Unordnung ist ihm zutiefst zuwider, gerade im Kontor. Also sollten wir damit beginnen, zuallererst Ordnung zu schaffen.« Sie nahm die Tasse mit dem dampfenden Tee vom Fenstersims. Vorsichtig pustete sie hinein und nippte in kleinen Schlucken. Der Ingwer zeigte erste Wirkung. Das Sprechen fiel ihr weitaus leichter als vorhin.
»Wenn es ums Aufräumen geht, bin ich gut genug, egal, ob es in der Küche oder im Kontor ist. Warum lässt du Mathias nicht die Karten verräumen? Ich bin viel schneller im Rechnen als er und hätte die Bücher bald durch. Davon abgesehen könnte er beim Aufräumen einen Blick auf die Karten werfen und sich endlich merken, wo Norden und wo Süden ist.« Carlotta zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme vor der flachen Mädchenbrust.
»Weder beim Rechnen noch bei den Karten geht es allein um Geschwindigkeit.« Magdalena stellte sich vor ihre Tochter und lächelte sie liebevoll an. Noch reichte Carlotta ihr gerade bis zur Schulter. Auch wenn sie beide von zierlichem Wuchs waren, so würde die Dreizehnjährige sie doch eines Tages überragen. »Ihr beide müsst lernen, die Bücher zu führen«, erklärte sie geduldig. »Heute ist Mathias damit an der Reihe. Das Lesen der Landkarten gehört übrigens ebenfalls zum Alltag eines Kaufmanns und umfasst weit mehr als das Unterscheiden von Süden und Norden. Deshalb wirst du dich heute damit beschäftigen. Oder willst du lieber Hedwig in der Küche zur Hand gehen?«
Ihr Ton ließ nun keinen Zweifel mehr daran, dass sie keine Widerworte duldete. Magdalena nahm den Brief vom Fensterbrett und ging zum Schrank an der Längswand des Kontors. Rasch fand sie einen Platz für die Papiere.
Daraufhin beschloss sie, die Musterblätter mit Stoffen und Garnen durchzusehen. Auch darin musste sie Carlotta und Mathias bald einweisen. Das Talglicht genügte nicht, die Farben und Muster zu unterscheiden. Noch einmal trat sie zum Tisch zurück und nahm eine der beiden Lampen, die dort standen.
Auf einmal entdeckte sie Seltsames. Sie stockte und starrte auf den Tisch mit den ausgebreiteten Landkarten. Nein, es war keine Täuschung gewesen. Ihr wurde flau, als sie das begriff.
21
Carlotta hasste es zutiefst, überflüssige Handlangerdienste zu erledigen. Anspruchslose Tätigkeiten wie das Aufräumen der Landkarten zählten eindeutig dazu. Zum ersten Mal seit Tagen wagte sie einen sehnsüchtigen Blick auf Mathias, der die Bücher studieren durfte. Ausgerechnet in diesem Augenblick hob er die riesige Nase und grinste sie an. Verärgert streckte sie ihm die Zunge heraus. Dafür erntete sie ein tadelndes Augenbrauenrunzeln der Mutter.
Seufzend wandte sie sich dem Tisch zu und begann mit dem Aufrollen der ersten Karte. Flüchtig schweifte ihr Blick über die
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