Hexenheide
nicht verhungern«, sagt Lenne leise.
Malika grinst. »Ja … stimmt!«
»Also Kinder«, witzelt Herr Paul, »nicht einfach auf der Heide spielen, denn bevor ihr es euch verseht, werdet ihr von einer Hexe entführt und verschwindet für immer!« Ihm ist schnell klar, dass er etwas Falsches gesagt hat, als es plötzlich unbehaglich still wird. Eine ganze Reihe Kinder drehen sich unwillkürlich zu dem Foto hinten im Klassenzimmer an der Pinnwand um.
»Ja, nun ja … hm, ihr sollt natürlich sowieso nicht draußen auf der Heide herumlaufen.« Herr Paul hüstelt verlegen.
»Und im Handumdrehen wirst du dann selbst beschuldigt, eine Hexe zu sein«, durchbricht Malika unbeschwert die Stille. Sie grinst.
Die meisten Kinder lachen schon wieder erleichtert.
Aber Lenne sitzt immer noch umgedreht auf ihrem Stuhl und starrt mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto von Rinnie. Worte aus der Erzählung des Lehrers geistern ihr durch den Kopf: Hexensabbat, entführte Kinder, geopfert, Wassermühle, eine Hexe mit langen weißen Haaren …
12
Lenne und Karim sitzen wieder auf dem Zaun dicht beim Haus.
Lenne, die schon immer eine lebhafte Fantasie hatte, sieht eine wüste Horde auf ihrem Weg zur Müllerstochter über die Heide ziehen, bewaffnet mit Messern und Mistgabeln. Weit voraus ein Mann zu Pferd, Staubwolken wirbeln hinter ihm auf. Die Müllerstochter kann ihn schon von Weitem kommen sehen, sie hört das Trappeln der Hufe. Sie sieht die üble Meute, die ihm mit geballten Fäusten und wutverzerrten Gesichtern folgt. Oder hat sie nicht gesehen, wie er näher kam, und ist von dem jüngsten Sohn überfallen worden? Eine Tür, die aufgerissen wird, eine Gestalt, die ihr den Ausgang versperrt, ein tief gekränkter und nicht besonders liebenswürdiger Mann, der sich durch das Geschrei, das ihm folgt, sicher ist, Beifall zu bekommen, der weiß, dass er jetzt tun und lassen kann, was er will. Was ist ihr da wohl durch den Kopf gegangen?
Die Frau mit den weißen Haaren verändert sich vor Lennes Augen in eine Frau mit langen roten Locken. Eine Frau, die ahnungslos in einem Garten spazieren geht. Sie heißt Ermelinde. Sie trägt ein helles Kleid, das ihr bis auf die Füße reicht. Der tiefe Ausschnitt zeigt ihre bloße Haut, die mit fröhlichen Sommersprossen übersät ist. Die Spitzen an den Enden der langen Ärmel fallen ihr über die Hände, und sie zieht sich den Umhang aus braunem Samt enger um die Schultern. Es ist frisch, es ist noch Frühling, und der Garten ist voller kleiner weißer Frühlingsblumen. Die Frau bückt sich und pflückt ein Frühlingssträußchen. Als sie sich wieder aufrichtet, steht da nur wenige Meter von ihr entfernt eine Frau mit langen offenen Haaren, die ihre Hand nach ihr ausstreckt, ihr winkt, sie ruft. Lenne kennt den Blick, sie weiß, wie sich das anfühlt, von der Frau mit den weißen Haaren gerufen zu werden. Man kann sich nicht weigern, man will sich nicht weigern, man will mitgehen.
Lenne seufzt tief und etwas zitterig auf.
»Was ist los?«, fragt Karim.
»Ich glaub, ich weiß, was mit Rinnie passiert ist«, sagt Lenne einfach so.
»Was!«
»Karim … die Frau bei der Mühle … sie wollte, dass ich mit ihr gehe. Sie hat nicht gefragt, nicht mit ihrer Stimme, aber ihre Augen …«
Karim überläuft ein Schauder. »Sei doch nicht so gruselig!«
»Es hat sich angefühlt, als würde ich hypnotisiert. Wenn du mich nicht festgehalten hättest, dann wäre ich wie ein Schaf hinter ihr hergelaufen.«
»Du glaubst, dass sie Alberdine ist, oder?«
»Du nicht?« Lennes Blick ist hart: Erzähl mir bloß nicht, dass du findest, das alles sei Unsinn! Es ist zu viel. Zu viele eigenartige Ereignisse hintereinander.
Karim macht den Mund auf – und schließt ihn dann wieder.
»Du hast Angst gehabt«, sagt sie. »Du wolltest so schnell wie möglich da weg.«
»Lenne … gestern … gestern war ich allein auf der Hei…«
»Was? Bist du denn verrückt geworden?«
»Ja, nein, hör mal, das ist durch eine Panne gekommen«, stammelt Karim und erzählt ihr die Geschichte mit dem platten Reifen, seiner einsamen Fahrt mit dem Rad und von dem Licht, das er gesehen hat. »Das ist doch komisch! Jemand mit einer Lampe mitten auf der Heide! Und ich hab im Schatten von dem Busch gesessen, und kein normaler Mensch hätte mich sehen können, aber ich hatte das Gefühl, dass mich jemand sieht. Und ich hab die Lampe näher kommen sehen, auf mich zukommen. Ich bin wie ein
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