Hexenheide
»Allerseelen und Allerheiligen sind am 1. und 2. November. Ich darf das eigentlich noch nicht verraten, aber – ihr wisst ja, dass ich im Elternbeirat von eurer Schule bin – wir haben neulich bei einer Sitzung überlegt, ein großes Fest zu veranstalten. Ein Gruselfest mit Verkleidung. Das gefällt euch doch sicher?« Begeistert blickt sie Lenne und Karim an. »Dieses Jahr fällt der 31. Oktober auf einen Freitag, das ist gut, denn dann könnt ihr am nächsten Tag schön ausschlafen. So ein Gruselfest muss natürlich abends stattfinden, wenn es dunkel ist.«
»Und müssen wir uns dann verkleiden?«, fragt Karim mit gerümpfter Nase. »Ist das nicht mehr was für die ganz Kleinen?«
»Nein, Karim, doch nicht, wenn alle anderen als Gespenst oder Monster oder Hexe gehen! Richtig schön unheimlich!«, sagt Marit.
»Also, äh …« Lenne räuspert sich und schluckt. Dann wirft sie schnell einen Blick auf den Kalender, der an der Wand hängt, und unternimmt den Versuch, fröhlich zu lächeln, als sie sagt: »Dann muss ich mich ja beeilen, mein Hexenkostüm zusammenzubasteln.«
Karim stapft hinter Lenne die Treppe nach oben. Sie hatten da unten am Küchentisch nur einen schnellen Blick wechseln müssen, um sich zu verständigen, dass sie über das hier zu zweit reden müssten, ohne dass Lennes Mutter ihre Nase dazwischen hat.
»Meine Güte, ist das kalt hier!« Lenne fröstelt, als sie in ihr Zimmer kommen. »Oh, kein Wunder, das Fenster ist ja auch auf.«
»Mach mal schnell zu.« Karim nickt und reibt sich fröstelnd über die Arme.
»Das macht meine Mutter morgens immer auf, um die Bude zu lüften. Aber sie vergisst fast immer, es nach einer Stunde oder so wieder zuzumachen. Ich hab schon so oft zu ihr gesagt, dass …«
Karim hat sich auf Lennes Schreibtischstuhl plumpsen lassen. Er nimmt ein Heft in die Hand, um es sich anzusehen. Es dauert ein bisschen, bis ihm auffällt, dass sie sich mitten im Satz unterbrochen hat. »Was ist denn? Was hast du da?«
Lenne hat etwas von der Fensterbank genommen. Sie dreht sich zu Karim um, den Gegenstand auf ihrer ausgestreckten Hand.
»Eine Murmel?«, fragt Karim. »Oje, hast du die immer noch? Ich hab meine schon lange nicht mehr. Ich hab sie an … Was ist denn jetzt?« Lenne macht so ein komisches Gesicht. Was ist denn so Seltsames an Murmeln? Karim steht auf und kommt näher. »Die ist aber groß! Die ist echt schön, hör mal. Kein Wunder, dass du die aufgehoben hast.«
»Ich hab überhaupt nichts aufgehoben«, flüstert Lenne. Sie starrt die grüne gläserne Kugel auf ihrer Handfläche an. Sie ist viel größer als alle Murmeln, die sie früher jemals besessen hat. Sie ist so groß wie ein Tischtennisball, und sie ist schwer, viel schwerer, als man erwarten würde. »Die ist nicht von mir. Ich hab sie noch nie vorher gesehen.«
»Ein Geschenk von deiner Mutter?«, überlegt Karim. »Das ist auch keine richtige Murmel, glaube ich. Vielleicht soll sie einfach was Schönes sein, um sie irgendwo hinzulegen.« Er streckt seine Hand danach aus. »Darf ich mal?«
»Nein!«, entfährt es Lenne wie ein schriller Schrei. Sie schließt die Finger um die Glaskugel und drückt sie in einer schützenden Bewegung fest an sich.
Karim sieht sie fassungslos an, und Lenne guckt genauso fassungslos zurück. Was hat sie dazu getrieben?
»Warum denn nicht?«
»Ich darf sie doch wohl kurz mal anschauen?«
»Ich weiß es nicht.« Lennes Augen sind groß und verwirrt. »Nein«, sagt sie noch einmal.
Das offene Fenster, denkt Karim. Er geht hin und schaut hinaus. Im Garten ist nichts Besonderes zu sehen. Die Apfelbäume wiegen ihre kahlen Zweige im Wind, ein einsamer Eimer rollt träge hin und her. Ein hölzerner Blumenkasten, aus dem sich im letzten Sommer orange blühende Kletterpflanzen nach oben gerankt haben, steht jetzt voll Wasser. Die Wasseroberfläche kräuselt sich unter einem Windstoß. Im Sommer findet Karim den Garten immer schön. Lennes Eltern haben nie viel daran machen wollen, und so ist er unverändert geblieben und noch voller lustiger alter Dinge. Eine schwarze Pumpe, aus der schon lange kein Wasser mehr kommt, eine krumme Leiter, die völlig überwuchert ist und früher sicher gebraucht wurde, um die Äpfel zu pflücken. Es gibt einen kleinen gepflasterten Platz voller Risse und Sprünge, aus denen Moos wächst, und der ganze Garten ist von einer grauen, bröckeligen Trockenmauer umgeben, die noch nie eine Kelle voll Mörtel gesehen hat. Jetzt im Herbst hat
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