Hexenheide
Kupferrotem. War nicht der Grund, weshalb sie sich hier auf den Zaun gesetzt haben, der Frau mit dem kleinen Hund noch einmal zu begegnen? Sie ist nicht gekommen.
»Was denkst du, warum die Frau hier war«, fragt Karim, als könne er Lennes Gedanken lesen, »beim letzten Mal?«
Nachdenklich überquert Lenne die Straße.
Ein Radfahrer schlängelt sich gerade noch um sie herum. »He, kannst du nicht aufpassen?«
Erst auf der gegenüberliegenden Seite beantwortet Lenne Karims Frage. Den Radfahrer scheint sie gar nicht bemerkt zu haben. »Ich glaub … um mich zu warnen.«
»Zu warnen wovor? Vor der weißen Hexe?«
»Oder vor der anderen, der aus dem Wasser. Die Frau mit dem kleinen Hund – sollen wir sie nicht einfach Ermelinde nennen? – wollte nicht, dass ich auf die Heide gehe. Sie hat gesagt, und das ziemlich eindringlich, dass wir nach Hause gehen sollen. Vielleicht will sie nicht, dass mir das passiert, was anderen passiert ist.«
Schweigend gehen sie zu Lennes Haus.
»Kommst du noch mit rein?«, fragt Lenne Karim, als sie am Gartenzaun stehen.
»Oh …« Karim ist erstaunt. Er war automatisch davon ausgegangen, dass sie zusammen noch was Schönes machen. »Ich hab gedacht, dass wir vielleicht das Atlantisspiel weiterspielen.«
»Hm … ja … warum nicht«, murmelt Lenne gleichgültig.
Sie hat den Kopf mit anderen Dingen voll, begreift Karim. Ein Computerspiel ist verglichen damit alberner Kinderkram. Trotzdem folgt er ihr ins Haus. Er glaubt schon zu verstehen, was in ihr vorgeht: Es muss einem schreckliche Angst machen, wenn Hexen um einen herumgeistern, und er erinnert sich an seine eigene Angst bei seiner gestrigen Fahrradfahrt. Er sollte Lenne trösten und ihr sagen, dass alles gut wird. Doch er weiß, dass diese Worte die Sache nicht so richtig treffen.
Marit sitzt am Küchentisch. Sie hat ein großes Messer in der Hand, und vor ihr liegt ein orangefarbener Riesenkürbis inmitten kleiner Klumpen von etwas hellerer Farbe. Sie sieht irgendwie erhitzt aus.
»Was machst du denn da?«, will Lenne wissen.
»Ich versuche, hier ein Gesicht reinzuschneiden, du weißt schon, in einen ausgehöhlten Kürbis.«
»Warum?«
»Das finde ich schön, wenn man den mit einer Kerze darin draußen neben die Haustür stellt. Das passt so richtig zu dieser Jahreszeit.«
Karim zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich. Das Kinn in die Hände und die Ellbogen auf den Tisch gestützt, schaut er eine Weile interessiert zu. »Der sieht ja ziemlich böse aus«, stellt er dann fest.
»Das muss auch so sein«, meint Marit. Sie betrachtet den grimmig eingekerbten Mund, den sie gerade ausgeschnitten hat.
»Bald traut sich niemand mehr zu unserer Haustür rein.« Lenne grinst. Sie holt eine Flasche Limonade aus dem Kühlschrank, um sich und Karim etwas einzugießen. »Ist vielleicht auch besser so«, hört sie Karim murmeln. Mit einem Ruck dreht sie sich zu ihm um.
Karim fängt ihren beunruhigten Blick auf und schämt sich sofort zutiefst. Da sitzt er hier und macht ihr nur noch mehr Angst, als sie schon hat! Und dabei ist er doch gerade mit dem Vorsatz hergekommen, sie wieder etwas fröhlicher zu stimmen.
Marit, die konzentriert mit einem hinterhältigen Schlitzauge ringt, hat mitbekommen, was sie gesagt haben. Und dann erklärt sie in aller Seelenruhe: »Im Gegenteil. Die ausgehöhlten Kürbisse mit einer Kerze darin, die man vor die Haustür stellt, waren ursprünglich dafür gedacht, liebe Verstorbene einzuladen. Habt ihr das gewusst? Solche Traditionen gibt es in einigen Ländern: Halloween, Allerseelen, Allerheiligen. In Mexiko feiern sie Allerseelen. Dann werden alle Toten dazu eingeladen, die Lebenden zu besuchen. Halloween ist ein Fest, das noch von den Kelten stammt. Man feiert es im Herbst, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger werden. Der Winter war für die Menschen früher nicht die beste Zeit: wenig zu essen, kalte Nächte. Vielleicht hatten sie auch noch keine Erklärung für die Tatsache, dass die Sonne nur noch so wenig scheinen wollte, und im Dunkeln war es nicht so angenehm, denn dann haben die bösen Mächte freies Spiel. Da kommen die Geister und Hexen und andere grauenvolle Gestalten aus allen Ecken und Winkeln gekrochen.«
Lenne fällt die Limonadenflasche beinahe aus den Händen. »Wa-wann ist das? Die Feste, wann äh … muss dieser Unfug gefeiert werden?«
»Halloween ist am 31. Oktober«, antwortet Marit, während sie in aller Ruhe mit Schneiden und Schnitzen weitermacht.
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