Hexenheide
dass es aufhört. Mit zitternden Beinen hält er stand. Er konzentriert sich auf seine Füße, mit denen er sich gegen den Wind stemmt. Ich darf nicht umfallen, ich darf nicht zusammenbrechen, ich darf nicht aufgeben. Aufrecht stehen bleiben, das ist das Einzige, das zählt. Ich bin der Ostwind. Ich bin der Wind, der Hexen fortweht. Fort, fort! Niemand kann gegen alle vier Winde gleichzeitig bestehen. Verschwinde von hier. Wenn der Wind aus allen vier Himmelsrichtungen bläst, dann ist keine Hexe mehr sicher. Karim spürt und weiß auf einmal, dass er ein Teil des Sturms ist. Er trägt selbst dazu bei, ist einer der vier Verursacher des Sturms. Er spürt die Energie, die Erin ihm gegeben hat, durch seinen Körper strömen, von der Stirn bis zu den Fingerspitzen, bis in die letzten Enden seiner Zehen. Und er lacht. Er kann nichts dagegen tun, er muss lachen, schallend lachen. Es ist ein herrliches Gefühl, als ob ihm irgendetwas sagen würde, dass er niemals mehr Angst haben muss. Und dann verstummt das Geräusch, die Winde legen sich, und es wird still im Raum.
Karim lässt die Hände sinken und holt tief Luft. Ist es vorbei? Zögernd dreht er sich um.
Vita ist verschwunden.
27
Karim sitzt auf einem Küchenstuhl. Alba hockt vor ihm und wickelt einen Verband mit heilkräftigen Blättern um seinen Knöchel, während Erin ihr mit einem Kerzenhalter, in dem zwei Kerzen brennen, Licht spendet.
Lenne sitzt ihm gegenüber am Tisch und trinkt in kleinen Schlucken von dem warmen Getränk, von dem sie früher in der Nacht auch schon getrunken haben. Karim folgt ihrem Beispiel und trinkt einen Schluck aus seinem eigenen Becher. Er weiß nicht, ob es der Trank ist oder die Heilkraft in den Blättern, aber der Schmerz in seinem Knöchel vergeht wie ein Feuer, das gelöscht wird.
»Aber sie ist nicht tot?«, fragt er wiederholt.
Alba schüttelt den Kopf.
»Aber wo ist sie dann?«
»Im Dunkeln, wo sie hingehört.« Albas Stimme klingt bissig.
Im Dunkeln. Darunter kann sich Karim nichts vorstellen. Oder vielleicht doch? Er erinnert sich auf einmal an das dunkle Nichts, in dem er zu verschwinden schien, als Vita ihn im Griff hatte, das Stückchen Zeit, das er verloren hat, und wie er daraus wieder zu Bewusstsein kam wie aus einer Betäubung. »Aber wie lange dauert die Beschwörung denn an?«
»Bis wir sie wieder aufheben«, antwortet Erin.
»Und werdet ihr das jemals machen?«
Erin lächelt. »V ielleicht.«
»Aber nicht, bevor wir hier ein Machtfeld geschaffen haben, dem Vita nicht gewachsen ist«, sagt Alba scharf. Ihre Augen richten sich kurz auf Lenne, bevor sie sich wieder über Karims Knöchel beugt. »Kommt«, sagt sie, als sie fertig ist, »T rinkt eure Becher aus, dann kann ich euch nach Hause bringen.«
Lenne seufzt. »Ach, nein.«
»Aber ja, du musst noch ein paar Stündchen schlafen«, sagt Erin und gibt ihr einen Klaps auf die Schulter.
»Schlafen!«, ruft Lenne entrüstet. »Als ob ich jetzt schlafen könnte!«
Auch Karim kann sich nicht vorstellen, jetzt so einfach nach Hause zu gehen, um die letzten paar Stunden der Nacht in seinem Bett zu verbringen.
»V ergiss nicht, den wieder abzunehmen, wenn du zu Hause bist«, sagt Alba und tippt Karim auf den verbundenen Knöchel. »Morgen früh, aber auf jeden Fall, bevor deine Eltern darüber Fragen stellen. Es wirkt schnell, und nach ein paar Stunden ist alles geheilt.« Sie steht auf und wartet – ein bisschen ungeduldig, so scheint es, bis Karim und Lenne ihre Becher geleert haben. Karim glaubt, ihre Ungeduld schon verstehen zu können. Alba will sie beide sicher und wohlbehalten in ihren Betten haben, bevor vielleicht die Eltern wach werden, die mal einen Blick in die Zimmer ihrer Kinder werfen könnten, um dann zu entdecken, dass diese verschwunden sind.
Brav stehen Lenne und Karim von ihren Stühlen auf und gehen hinter Alba in das Zimmer, in dem sie vorher schon waren, das Zimmer mit dem Kreis auf dem Boden.
Mitten in dem Hexenkreis liegt das Mädchen, das sich Rune nennt, und schläft tief und fest. »Wird sie sich wirklich an nichts erinnern?«, fragt Lenne.
»An nichts«, antwortet Alba. »Das Letzte, was sie weiß, ist, dass sie am Wasser entlang auf dem Heimweg war.«
»Ist Vita aus dem Wasser gekommen?«, will Lenne wissen. »Ist sie aus dem Wasser gekommen, um Rune mitzunehmen? Das hat sie bei mir auch versucht.«
»Hm.« Alba nickt. »Aber davon weiß das arme Kind nun zum Glück nichts mehr.«
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher