Hexenkessel
nicht vergessen haben.«
Auch sie wirkte vollkommen verändert, dachte Tweed. Sie sah zufrieden, beinahe glücklich aus, auf jeden Fall jedoch erleichtert. Ganz offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, Kalifornien den Rücken zu kehren. Tweed vermutete, daß die Jahre der Sorge um Ethan ihre Kräfte vollkommen aufgezehrt hatten. Irgendwann gelangte jeder Mensch an einen Punkt, an dem er seine Bürde nicht mehr tragen konnte und nur noch den Wunsch hatte, sich davon zu befreien.
Er nahm auf dem Beifahrersitz des Mercedes Platz. Newman hatte es offenbar eilig, weiterzukommen. Er saß da, trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und ließ den Blick abwechselnd zu Paula, zu Alvarez und Tweed wandern.
»Können wir jetzt endlich losfahren?«
»Ja, wir sind soweit. Wir haben in Black Ridge getan, was in unserer Macht stand. Nun ist es an der Zeit, an uns selbst zu denken.«
»Gott sei Dank«, seufzte Paula voller Inbrunst.
Newman fuhr die Zufahrt hinunter, bog links auf den Highway ab und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, wobei er ein waches Auge auf etwa auftauchende Streifenwagen hielt. Marler folgte ihnen am Steuer des BMW; Butler und Nield saßen wie immer hinten im Fond.
»Die Temperatur sinkt«, stellte Tweed fest. »Komisch, immer gegen vier Uhr wird es auf einmal empfindlich kühl in diesen Breitengraden.«
»Bald setzt die Dämmerung ein«, sagte Newman. »Ich will unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Hotel sein.«
»Diese Massenkarambolage hat uns mehrere Stunden aufgehalten, vergessen Sie das nicht«, mahnte ihn Tweed. »Ich muß erst noch Monica anrufen. Es ist eine halbe Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Vielleicht hat sie Neuigkeiten für uns.«
»Ich hatte vor, auf direktem Wege nach Spanish Bay zurückzufahren«, fuhr Newman ihn an. »Sie können doch wohl das Telefon in Mission Ranch benutzen.«
»Da wimmeln zu viele Leute um mich herum«, protestierte Tweed. »Bringen Sie mich zu der Telefonzelle in Carmel, die ich bislang immer benutzt habe.«
»Wie wär’s, wenn Sie Monica vom Hotel aus anrufen?« schlug Paula vor.
»Nein, ich brauche einen sicheren Apparat. Ich nehme die Telefonzelle in Carmel.«
Er hatte sowohl bei Newman als auch bei Paula deutliche Anzeichen von Ärger gespürt. Die Atmosphäre in Black Ridge war ihnen allen aufs Gemüt geschlagen. Seufzend blickte er wieder aus dem Fenster und sah, daß vom Pazifik her bedrohliche Sturmwolken heranzogen. Weiter draußen über dem Wasser war der Himmel klarer, und die Sonne sank gleich einem gigantischen roten Feuerball zum Horizont herab. Wie die hinter ihm sitzende Paula bewunderte auch er schweigend ein Naturschauspiel, das Touristen aus aller Herren Länder in seinen Bann schlug. Der untere Rand des Sonnenballes erreichte die Horizontlinie und schien in den Ozean einzutauchen. Tweed stellte erstaunt fest, wie schnell sie versank. Unwillkürlich drängte sich ihm der Vergleich mit einem riesigen Goldstück auf, das im Schlund des kommenden Tages verschwand. Aber würde es überhaupt noch ein Morgen geben?
Kurz darauf passierten sie das unter ihnen liegende Gebäude der Mission Ranch. Auch dort hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um die Farbenpracht zu betrachten, die die untergehende Sonne auf das Wasser malte. Newman würdigte sie keines Blickes, sondern jagte mit der höchsten noch erlaubten Geschwindigkeit durch Carmel. Dann hielt er am Bordstein an.
Tweed sprang aus dem Wagen. Der eben noch dunkelviolette Himmel schimmerte jetzt fast schwarz. Die Nacht brach herein, und viele Pärchen waren auf dem Weg in die nahegelegenen Restaurants. Er betrat die Telefonzelle und wählte die Nummer des fernen Park Crescent.
»Monica, hier ist Tweed.«
»Dem Himmel sei Dank! Ich habe schon befürchtet, Ihnen wäre etwas zugestoßen. Immer wieder habe ich versucht, Sie im Spanish Bay zu erreichen.«
»Warum?«
»Sprechen Sie von einem sicheren Apparat aus? Oder rufen Sie vom Hotel aus …«
»Die Leitung ist sauber. Was ist denn los?«
»Ich dachte, Sie sollten es so schnell wie möglich erfahren. Mein Kontaktmann bei Lloyd’s sagte mir, daß die Venetia zwar noch vor dem Hafen von Falmouth liegt, der Kapitän dem Hafenmeister aber mitgeteilt hat, sie würden innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden die Anker lichten. Ziel ist das östliche Mittelmeer. Ich glaube, sie werden Beirut anlaufen. In vierzehn Tagen findet dort eine Konferenz statt, an der die
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