Hexenkind
Laden, die sich laut unterhielten und anfingen, die einzelnen Dinge in der Regalen zu kommentieren.
»Hier nicht«, antwortete sie. »Wann hätten Sie denn mal ein paar Minuten Zeit?«
Antonio sah auf die Uhr. »In einer Stunde in der Bar Agostino in der Via Santa Caterina?«
»Va bene. Ich warte auf Sie.«
Daraufhin verließ sie den Laden und hoffte, dass ihr letzter Satz nicht zu scharf geklungen hatte. Sie wollte nicht, dass er den Eindruck hatte, sich für irgendetwas rechtfertigen zu müssen.
Eine ganze lange Stunde. Völlig verloren stand sie auf der Straße und konnte sich noch nicht einmal entscheiden, ob sie nach links oder rechts gehen sollte. Die Via Santa Caterina war von beiden Seiten zu erreichen. Einige Häuser weiter rechts hockte ein Bettler vor einem Benetton-Geschäft und klapperte mit einigen Münzen in einer leeren Raviolidose. Also ging sie nach links, um den vorwurfsvollen Blick des Bettlers nicht aushalten zu müssen, wenn sie nichts in die Dose warf.
In einem Stoffgeschäft kaufte sie sich einen lachsfarbenen seidenen Schal, der gut zu ihrem blassen Teint und ihren blonden Haaren passte. Sie bemerkte, dass sie darüber nachdachte, ob ihm der Schal gefallen würde, und ihre
Nervosität wurde stärker. Ähnlich hatte sie sich gefühlt, als sie den Versicherungsvertreter Marcello in ihr Haus im Wald bestellt hatte.
Sie ging langsam weiter. In einem Buchgeschäft blätterte sie durch einige Illustrierte, ohne die Fotos, die sie sah, wirklich wahrzunehmen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, ging schnurstracks in die Via Santa Caterina und betrat die Bar Agostino. Sie bestellte sich ein Mineralwasser und wählte einen Tisch in der hintersten Ecke, von dem aus sie die Tür gut im Blick hatte.
Noch fünfundzwanzig Minuten.
Ihre Hände zitterten derart, dass sie mit der linken Hand ihre rechte festhalten musste, um sich zur Ruhe zu zwingen. Mach jetzt keinen Fehler, schrie ihr Verstand, noch ist nichts zu spät und nichts verloren. Du brauchst einfach nur aufzustehen, dein Wasser zu bezahlen und zu gehen. Nichts wird passieren. Wahrscheinlich wirst du ihn nie wiedersehen. Gut, deine Tochter hat jetzt eine Beziehung zu ihm, aber die währt sicher nicht ewig, vielleicht ist es in zwei Monaten schon jemand anders, und was interessiert dich denn wirklich ein kleiner Schreibutensilienhändler aus der Via di Città?
Aber sie wusste in der ersten Sekunde, als sie ihn sah, dass sie alles daran setzen musste, um ihn zu bekommen. Vielleicht war es das glasklare Blau seiner Augen oder seine kühle distanzierte Art, die den Reiz ausmachten. Seine lässigen, aber keineswegs spannungslosen Bewegungen, seine absolut perfekten Proportionen. Er war kein Bauer, kein contadino, er war ein Sienese, ein stilvoller Mensch mit höflichen Umgangsformen. Er war gepflegt und elegant, sicher wahnsinnig kontrolliert, umso interessanter fand sie es, die
aalglatte Oberfläche zu durchbrechen und in enthemmte Regionen vorzustoßen. Das war das Spiel. Nun gut, er war wesentlich jünger als sie, aber das gehörte zum Spiel dazu. Es machte die Sache nicht einfacher, erhöhte aber den Einstiegslevel.
Noch fünfzehn Minuten.
Das Wasser hatte sie ausgetrunken, jetzt überlegte sie, ob sie warten oder sich einen Prosecco bestellen sollte. Geh nach Hause, sagte eine wohlmeinende besorgte Stimme in ihr, du hast genug Probleme, schaff dir nicht andauernd neue.
Egal. In diesem Augenblick war ihr alles egal. Sie war die Jägerin, er das Opfer, das in zehn Minuten in die Falle laufen würde.
Erst jetzt kam ihr Elsa wieder in den Sinn. Das machte die ganze Sache kompliziert. Ach, mein Gott, Elsa, dachte sie, wenn es wirklich dazu kommen sollte, dann muss sie ja nicht unbedingt davon erfahren. Ich werde alles auf mich zukommen lassen.
Was wollte sie eigentlich mit ihm besprechen, wenn er jetzt kam? Sie hatte keine Ahnung, nicht die geringste Idee, sie konnte ihm ja nicht sagen, dass ihr Besuch in dem Geschäft nichts weiter als blanke Neugier gewesen war.
Sie hatte noch zwei Minuten Zeit, um die Bar zu verlassen. Aber sie tat es nicht.
Die Stunde war um. Vielleicht kommt er gar nicht, dachte sie, vielleicht lässt er mich hier sitzen, weil er überhaupt keine Lust hat, mit Elsas Mutter zu reden, und weil er vermutet, sich irgendwelche Moralpredigten anhören zu müssen. Leichte Panik stieg in ihr auf. Jetzt wollte sie nicht mehr zurück, jetzt war sie ins kalte Wasser gesprungen und wollte nicht zurück an Land.
Neun
Weitere Kostenlose Bücher