Hexenkind
trug lediglich eine Unterhose und stand barfuß auf den kalten Steinfliesen.
»Mein Gott, zieh dir was an, hier ist es schweinekalt.«
Er nickte und nahm sie in den Arm. »Wie werd ich das alles vermissen.«
Er ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen, und sie spürte, wie ihr jetzt schon die Tränen kamen. Das schaffe ich nicht auf dem Bahnhof, das schaffe ich nie, dachte sie.
Sie frühstückten eine halbe Stunde. Er trank drei Tassen Kaffee und aß sogar eine halbe Scheibe Weißbrot mit Käse, was für ihn völlig ungewöhnlich war.
»Abschiede kotzen mich an«, sagte er.
»Mich auch«, meinte sie.
Und dann verließen sie das Haus.
Auf dem Bahnsteig war es zugig und kalt. Sie hatten noch ein paar Minuten. Elsa lehnte sich an ihn, er öffnete seine Lederjacke, schlang sie um sie und hielt sie ganz fest, wie ein Neugeborenes, das man vor dem Wind schützen will.
Elsa sagte kein Wort, alles schien ihr zu banal in dieser Situation.
Noch zwei Minuten. Noch zwei endlos lange Minuten unter seiner Jacke, die vielleicht nie vergehen würden. Wenn man liebt, bleibt die Zeit stehen.
Aber die Ansage kam bereits. Schreiend laut, in Italienisch und in Englisch. Vor der Einfahrt des Zuges wurde gewarnt.
Elsa hatte vor der herandonnernden Lokomotive Angst und zuckte unwillkürlich vor den kreischenden und quietschenden Bremsen zusammen.
Der Zug hielt. »Vergiss mich nicht«, flüsterte sie, als sie ihn ansah und ihr Gesicht zu einem allerletzten Kuss erhob.
»Niemals«, sagte er und meinte es ernst.
Elsa nickte, die Tränen sprangen ihr in die Augen und liefen ihr übers Gesicht. Er küsste sie und drückte sie ein
letztes Mal an sich, dann hob er sein Gepäck in den Zug und kletterte hinterher. Er stand in der offenen Tür und winkte. Elsa winkte auch, obwohl sie nur einen Meter voneinander entfernt standen.
Dann schlossen sich die Türen, und der Zug fuhr an.
Elsa fürchtete sich vor der leeren Wohnung, vor seinem zerwühlten Bett, in dem er wochenlang geschlafen hatte, vor dem nicht abgeräumten Frühstückstisch, vor seiner Kaffeetasse, aus der er eben noch getrunken hatte, vor seinem nassen Handtuch im Bad. Vor dem Sessel, in dem er ab und zu eingenickt war, und vor dem Teppich, auf dem sie sich zur Musik von Verdis »La Traviata« geliebt hatten. Alles, einfach alles erinnerte an ihn. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie die nächsten Wochen ohne ihn überstehen sollte.
Nur noch drei Wochen bis Weihnachten. Der Himmel über Siena war bedeckt, und es nieselte leicht. Die schmalen Gassen erschienen ihr grau und trist, sie wusste nichts mit sich anzufangen, war ohne ihn völlig verloren in der Welt.
Und genau wie an dem Abend, als sie ihn kennengelernt hatte, zog sie auch an diesem Dezembervormittag planlos durch die Stadt. In einer Bar trank sie einen Cappuccino, wühlte gedankenverloren in ihrer Handtasche, wie sie es oft tat, wenn sie nicht wusste, was sie machen sollte, und dabei fiel ihr die Visitenkarte des Schmuckhändlers in die Hände, den Amadeus auf dem Antikmarkt verprügelt hatte.
Das Armband. Das Armband, das er ihr schenken wollte und das sie immer tragen und an ihn erinnern sollte.
Elsa zahlte, verließ die Bar und lief nach Hause. Zielstrebig und so schnell sie konnte. In der Nähe ihrer Wohnung
stieg sie in ihren kleinen Fiat und fuhr nach Arezzo. Dort hatte der Händler seinen Laden.
Er erkannte sie sofort wieder.
»Heute allein?«, fragte er und Elsa nickte.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Dein Freund ist ein stronzo.« Er sah wütend aus.
»Es geht um das Armband …«, begann Elsa vorsichtig.
Der Händler nickte, zog eine Schublade auf und holte es heraus. Elsa erschien es heute noch schöner als am vergangenen Sonntag. »Ich kaufe es«, sagte sie und ließ sich das Armband nicht einpacken, sondern legte es sich gleich ums Handgelenk.
Während sie langsam zurück nach Siena fuhr, spürte sie das kühle Gold auf ihrer Haut und fühlte sich ihm auf eigentümliche Weise verbunden.
63
Elsa stürzte sich in die Arbeit, studierte von morgens bis in die Nacht, um zu vergessen, dass er nicht da war. Mehrmals wachte sie nachts aus Albträumen auf, wollte den Arm um ihn schlingen und merkte dann erst, dass das Bett leer und sie allein war.
Er hatte sofort angerufen, als er in Berlin angekommen war, aber dann hörte sie lange nichts von ihm. Zweimal war er am Telefon so betrunken, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Seine Sätze waren knapp und abgehackt, als traue
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