Hexenkind
das Zelt leer war. Vollkommen irritiert schaltete sie ihre Taschenlampe an und sah auf die Uhr. Kurz nach halb vier. Erst in zwei Stunden würde es hell werden. Sie kroch aus dem Zelt. Von Franky und Sarah keine Spur.
»Hallihallo!«, rief sie leise, »wo seid ihr denn, ihr Süßen?« Aber sie bekam keine Antwort.
Ihre ungute Ahnung verwandelte sich in Angst, als sie mit der Taschenlampe in der Hand den Weg zum Strand hinunterlief.
Die Brandung schlug rhythmisch leise auf den Sand, und ein fahler Mond überzog den Strand mit gräulich kaltem Licht. Die menschenleere Szenerie wirkte gespenstisch, aber vollkommen unwirklich erschienen die beiden ineinander verschlungenen nackten Körper, deren Stöhnen bis zu Katrin herüberdrang, die auf einer kleinen Düne stehen geblieben war.
Sarah und Franky fühlten sich frei und völlig allein auf der Welt. In dieser Stunde gehörte das Universum ihnen, und sie dachten keine Sekunde daran, sich zu verstecken.
Katrin sank auf die Knie. Sie verharrte minutenlang völlig bewegungslos, regelrecht hypnotisiert von dem, was sich vor ihren Augen abspielte
Als die Sonne aufging und Franky und Sarah zurückkehrten, hatte sie ihre Sachen bereits gepackt.
»Ich habe alles gesehen, ich möchte nichts mehr hören«, sagte sie.
»Verfluchte Scheiße«, brüllte Franky, trat voller Wucht gegen die Eiche und verletzte sich dabei den Fuß.
Sarah wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Wie durch dichten Nebel hörte sie die Geräusche des erwachenden Campingplatzes: Ein Kleinkind schrie, eine Wohnwagentür wurde zugeschlagen, Geschirr klapperte, gedämpfte Stimmen drangen aus den noch geschlossenen Zelten, und in der Ferne plärrte ein Radio-Jingle. Sie war unfähig, ihre Freundin in den Arm zu nehmen und ihr das Geschehene zu erklären. Sie war außerstande, sie um Verzeihung zu bitten. Sie stand einfach nur da und wartete, dass die Erde sich auftun und sie verschlingen möge.
»Okay, Franky«, sagte Katrin, und ihre Stimme klang samtweich und tiefer als gewöhnlich. »Ich hab mich in dir getäuscht. Das war’s dann. Lass dich nie wieder blicken.«
Sie drehte sich um, blickte Sarah direkt ins Gesicht und sah sie lange an. »Schade«, sagte sie. »Schade um uns.«
Noch nie hatte Sarah so viel Trauer und Enttäuschung in den Augen ihrer Freundin gesehen.
Katrin griff nach ihrer Reisetasche. Weder Sarah noch Franky baten sie um Entschuldigung, und sie sagten auch nicht: »Bleib hier.« Sie sagten gar nichts, sondern sahen ihr völlig bewegungslos und stumm hinterher, bis sie zwischen den Zelten und Wohnwagen verschwunden war.
8
Seit anderthalb Jahren lebte Franky in einer Vier-Zimmer-Altbau-Wohnung in Schöneberg, nahe des Kleistparks. Sein Bruder und er hatten die Wohnung von ihrer Tante Olga übernommen. Sie war eine alleinstehende, elegante Dame um die fünfzig gewesen, die nie ungeschminkt aus dem Haus ging, für die Beatles schwärmte, Berufsschüler in Englisch unterrichtete und sich eines Sonntagmorgens die Pulsadern aufschnitt, während sie sich in einer Endlosschleife »Yesterday« anhörte. Franky und sein Bruder Uwe hatten nach Olgas Tod die gesamte Wohnung renoviert, die schweren Stofftapeten mit goldenen Ornamenten komplett von den Wänden gerissen und eine billige, aber nagelneue Küche eingebaut. Vom Balkon hatte man einen herrlichen Blick auf den Park.
Vor drei Monaten hatte sich Uwe bei einer Uni-Fete in eine Neuseeländerin verliebt, die ein Stipendium für ein Jahr in Deutschland hatte, und war ihr in ihre Heimat gefolgt. Er hatte sein Maschinenbaustudium an den Nagel gehängt und wollte sich in der Fischzucht versuchen.
Seitdem lebte Frank auf 152 Quadratmetern und in vier Zimmern allein, hatte zum Glück geduldige Nachbarn, die tagsüber nicht zu Hause waren und sein stundenlanges Klavierspiel auch am Abend gut ertrugen. Es war eigentlich
ideal. Nur mit dem Geld reichte es vorn und hinten nicht.
»Wenn du nichts dagegen hast, wohne ich bei dir«, meinte Sarah. »Ich kann mir sowieso nicht mehr vorstellen, länger als zwölf Stunden von dir getrennt zu sein.«
Zwei Monate später gab Sarah ihre Wohnung in Kreuzberg auf und zog zu Franky. Platz hatten sie zu zweit mehr als genug, und Franky hatte keine Probleme mehr mit der Miete. Was Sarah beisteuern konnte, reichte, um die Wohnung zu halten. Obwohl Franky wenig Zeit hatte und von morgens bis abends entweder über Büchern oder am Klavier saß, um sich aufs Examen vorzubereiten, war Sarah
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