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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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ausgesprochen glücklich. Sie genoss es, in ihrem Zimmer zu sitzen, für ihr Germanistikstudium den »Simplicissimus« durchzuarbeiten und durch die geschlossene Tür die Klänge von Frankys Flügel zu hören. Der Flügel war sein einziger wertvoller und heiß geliebter Besitz, den er hegte und pflegte und auf dessen spiegelglatter Oberfläche nie ein Staubkorn zu finden war.
     
    In der Woche vor der Prüfung am Konservatorium drehte sich Franky keinen Joint und trank kein einziges Bier. Er arbeitete konzentriert fast rund um die Uhr, nur unterbrochen von kurzen Schlaf- oder Kaffeepausen, die aber nie länger als drei oder vier Stunden dauerten.
    »Du machst dich kaputt«, sagte Sarah besorgt und massierte ihm den verspannten Rücken.
    Franky lächelte dazu nur. »Du weißt nicht, wie es ist, wenn ich mich richtig kaputt mache.«
    Sarah nahm den Satz nicht weiter ernst, sie hoffte nur,
dass die Prüfung möglichst bald vorbei sein und Franky wieder einmal richtig ausschlafen würde.
    Am Tag der Prüfung sah Franky aus wie ein hypernervöses Gespenst. Er stand um sieben Uhr auf, duschte und trank mehrere Tassen schwarzen Kaffee. Fast schlafwandlerisch bewegte er sich durch die Wohnung, und Sarah konnte sich nicht vorstellen, dass er auch nur einen sinnvollen Satz schreiben oder fehlerfrei seine Kompositionen vortragen könnte, die sie hervorragend fand und die sie zu Tränen rührten, wenn er sie ihr vorspielte.
    »Sag mir, wenn dir eine Passage nicht gefällt«, forderte er immer öfter und stürzte sie damit in die größten Gewissenskonflikte, weil ihr alles gefiel, weil ihr Herz bebte, wenn er spielte und sich die kleinen Härchen an ihren Armen und Beinen aufrichteten …, aber sie fand einfach keinen Unterschied in seinen Musikstücken, und einzelne Passagen konnte sie erst recht nicht auseinanderhalten.
    Er aß an diesem Morgen nichts, sondern saß am Flügel und spielte ab und zu einen Akkord, über den er dann ein oder zwei Minuten nachgrübelte, als wolle er den Klang tief in seinem Kopf abspeichern. Sie fragte sich, warum er dies nicht schon früher getan hatte, aber sie sagte nichts dazu und fragte ihn auch nicht. Um halb neun hörte er damit auf, nahm seine Unterlagen, seine mit Notenblättern prallgefüllte Aktentasche und seine Jacke und schickte sich an zu gehen. Sie nahm ihn zum Abschied fest in den Arm und spuckte ihm ein »Toi-toi-toi« über die linke Schulter. Er lächelte müde und verschwand.
    Um halb sechs kam er nach Hause. Sie hörte an der Art, wie er den Schlüssel im Schloss umdrehte, dass er bestanden
hatte. Er stürzte auf sie zu, nahm sie in den Arm, hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft.
    »Es war ein Kinderspiel«, sagte er überglücklich. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich nicht so verrückt gemacht. Komm, lass uns irgendwohin gehen, das müssen wir feiern.«
    Sie versackten in der kleinen »Weltlaterne«, aßen zwei riesige blutige Steaks mit Bratkartoffeln und Salat und tranken dazu drei Flaschen Wein. Sarah kam kaum noch die Treppen hoch, so müde war sie. Franky trug sie beinah und verfrachtete sie ins Bett, wo sie augenblicklich einschlief. Er selbst setzte sich in sein Zimmer und drehte sich drei Joints hintereinander, bis er den Fußboden nicht mehr von der Decke unterscheiden konnte und schlafend unter den Flügel rutschte.
    Franky machte sich auf Jobsuche. Als Erstes bekam er eine Organistenstelle in St. Agnes angeboten, aber dazu hatte er keine Lust. Er wollte nicht sonntags in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um morgens um acht in der kalten Kirche zu sitzen und für eine Handvoll alter Frauen Kirchenlieder zu orgeln. Die hin und wieder stattfindenden Orgelkonzerte waren ehrenamtlich, und als Pianist hatte er noch keinen Namen.
    Sarah schlug ihm vor, es in einem Hotel als Barpianist zu versuchen, aber Franky winkte ab. Jeden Abend »Plätschermusik« zu spielen, auf die niemand achtete, der keiner wirklich zuhörte – dafür hatte er nicht studiert.
    Also blieb er zu Hause, saß stundenlang am Flügel und komponierte ohne Pause. Berge von Notenblättern füllten sich mit Noten, und er arbeitete unermüdlich, obwohl nicht die geringste Chance bestand, ein paar seiner Kompositionen zu verkaufen.

    Manchmal komponierte er die ganze Nacht hindurch. Wenn Sarah am nächsten Morgen ins Zimmer kam, lag er meist zusammengesunken auf den Tasten des Flügels und schlief. Schwerer, süßlicher Marihuanageruch hing im Zimmer, jede Menge leere Bierflaschen lagen

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