Hexenkind
Vielleicht war er zur Straße hinausgegangen, was sie sich aber nicht vorstellen konnte, oder er wartete noch im Treppenhaus, um in wenigen Minuten wieder zurückzukehren und sie schweigend in den Arm zu nehmen.
Aber Franky kam in den nächsten Stunden nicht wieder. So gegen fünf, als sie sich einen Kaffee kochte und in den
Hof hinuntersah, registrierte sie, dass sein Auto nicht mehr da war.
Gegen sechs verstummte allmählich das Geschrei, weil Elsa vor Erschöpfung einschlief. Sarah atmete auf und setzte sich an ihren Schreibtisch.
Es war ungewöhnlich still in der Wohnung. So, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte, und Sarah ertappte sich bei dem Gedanken, ob es wirklich den Weltuntergang bedeuten würde, wenn Franky etwas passiert wäre.
Franky stand um ein Uhr nachts vor der Tür. Mit einer steifen Halskrause, einer aufgeplatzten und geschwollenen Augenbraue und kleinlaut wie ein Kind mit schlechtem Gewissen.
»Es tut mir leid«, stammelte er. »Aber ich habe das Auto zu Bruch gefahren.«
»Das ist ja fabelhaft. Und wo ist das Auto jetzt?« Sarah trug ein T-Shirt und eine Unterhose und hatte bereits geschlafen. Sie tastete ungeduldig nach ihren Zigaretten, als Franky vor ihr stand.
»Keine Ahnung. Auf dem Schrottplatz wahrscheinlich. Die Polizei wird es abschleppen. Da ist nichts mehr dran zu retten.«
Ohne ein weiteres Wort ging er zum Flügel, setzte sich und spielte einige Akkorde. Sarah folgte ihm und schlug mit der flachen Hand auf die Tasten.
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? ›Da ist nichts mehr dran zu retten!‹ Ich werd dir mal was sagen: Du bist nicht mehr zu retten. Mit deiner Scheißkifferei und Sauferei ruinierst du nicht nur dich, sondern auch uns, Elsa und mich. Elsa schreit den ganzen Tag. Ja, warum denn wohl? Weil sie einen Drogenjunkie zum Vater hat, der ihr völlig
versifftes Blut und verkorkste Gene vererbt hat. Aber dir ist ja alles egal! Hauptsache, du kannst dir gemütlich den nächsten Joint drehen!«
»Hör auf mit der verdammten Schreierei, du blöde Gans!«
»Und das Auto? Kannst du mir mal sagen, von welchem Geld wir uns ein neues kaufen sollen? Oder hast du Lust, Elsa jetzt jeden Morgen mit der U-Bahn in den Kindergarten zu bringen? Und die Einkäufe? Die schleppen wir jetzt alle zu Fuß nach Hause, oder was? Aber so weit denkst du ja nicht in deinem zugedröhnten Spatzenhirn!«
Franky stand auf und schlug ihr ins Gesicht. Sarah taumelte ein paar Meter zurück.
»Weißt du was, Frank Schworm? Du bist ein echter Scheißkerl«, flüsterte sie. »Manchmal wünschte ich, ich wäre dir nie begegnet.«
Berlin, 1987 – achtzehn Jahre vor Sarahs Tod
13
»Vielleicht habe ich eine Wohnung für dich«, sagte Romano und war so glücklich wie noch nie zuvor. Seinen freien Tag hatte er damit verbracht, die Wohnung zu putzen, die Betten frisch zu beziehen, ein paar Fotos aus seiner Heimat aufzuhängen, einzukaufen, sich zu rasieren, ausgiebig zu duschen und auf sie zu warten. Und sie kam tatsächlich. Sie stand vor seiner Tür, als wäre es das Normalste von der Welt und lächelte. Ohne Elsa, aber mit mehreren Koffern.
»Keine Angst«, sagte sie. »Ich falle dir nicht lange auf den Wecker, nur ein paar Tage, bis ich etwas gefunden habe, und dann bist du mich los.«
Als Erstes ging sie unter die Dusche. Er saß im Wohnzimmer, hörte das Wasser rauschen und fühlte sich wie im Paradies.
Als sie aus der Dusche wiederkam, setzte sie sich in seinem Bademantel auf den Teppich und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. »Zwei Zimmer«, sagte sie. »Mehr brauche ich nicht. Eins für mich und eins für Elsa.«
»Kollege ist gerade ausgezogen«, meinte Romano. »Geht zurück nach Italien. Vielleicht kannst du Wohnung kriegen. Ist nicht teuer und nicht weit.«
»Das wäre ja klasse.«
Dann saßen sie sich gegenüber, lächelten und schwiegen.
»Was tust du?«, fragte Romano.
»Ich studiere. Germanistik.«
Romano nickte. »Wenn ich genug Geld gespart habe, eröffne ich zu Hause kleine Trattoria. Im Haus meiner Eltern. Ist genug Platz.«
»Wo ist das denn?«
»In Montefiera. Ist kleiner Ort in der Toskana.«
»Toll«, meinte Sarah. »So was wäre mein Traum.«
Romano sah sie nur an, sagte aber nichts dazu.
Gegen Abend kochte er Spaghetti trapanese mit Thunfisch, Oliven, Knoblauch, Tomaten und Öl, und nach dem Essen setzte sie sich auf seinen Schoß. Ihre Hand wanderte über seinen Körper, und Romano wusste nicht, ob er auf dem Weg in den Himmel
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