Hexenkind
zusammenquetschte. Panik erfasste ihn. Er versuchte zu bremsen, aber er konnte seine Beine nicht bewegen, so überwältigend war der Schmerz in seiner Brust. Die Todesangst war das stärkste Gefühl, das er je empfunden hatte, aber sie dauerte nur einen Moment, dann wurde um ihn herum alles schwarz.
Als er über dem Lenkrad zusammenbrach, fuhr der Wagen in einer Rechtskurve geradeaus, rutschte den Abhang hinunter und prallte gegen eine Zeder, die ihn zum Stehen brachte.
Marcello hatte Glück. Der Fahrer des Wagens, der hinter ihm fuhr, beobachtete den Unfall und alarmierte den Notarzt. Marcello wurde noch an der Unfallstelle reanimiert und ins Krankenhaus nach Siena gebracht, wo ihm zwei Bypässe gelegt wurden.
Drei Wochen nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, erschien Sarah in seinem Büro in Montevarchi.
»Buonasera, Signor Vannozzi, come va?«, grüßte sie freundlich.
»Bene. Grazie.«
»Ich habe gehört, Sie waren so krank?«
»Ja, aber jetzt geht es schon wieder besser.«
»Oh, das freut mich aber. Und? Wie geht es Ihrer Frau und Ihren Töchtern?«
»Sehr gut. Danke. Und Ihnen, Signora? Haben Sie sich in Ihrem Haus gut eingelebt?«
»Ja sicher. Ich fühle mich jeden Tag ein bisschen wohler. Jetzt fehlt mir zu meinem Glück nur noch die Versicherungspolice. Haben Sie sie fertig?«
»Aber natürlich.«
Sachlich ging sie mit ihm Punkt für Punkt der Police durch, ohne ihm auch nur ein einziges Mal in die Augen zu sehen, aber auch ohne den Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. Sie war so normal, wie man überhaupt normal sein konnte. Er beobachtete sie voller Nervosität und wartete auf die kleinste Irritation, aber da kam nichts.
Von diesem Tag an versuchte er sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er sich alles nur eingebildet hatte, dass alles nur ein wüster Traum gewesen war. Nach seinem Herzinfarkt war ihm ein neues Leben geschenkt worden, jetzt war es allmählich an der Zeit, die Gespenster der Vergangenheit abzuschütteln. Ein paar Wochen später gelang ihm das. Die Erinnerung, die er nicht mehr zuließ, verblasste mehr und mehr. Schließlich war er ein rechtschaffener Mann, der sich bisher noch nichts hatte zuschulden kommen lassen. Allmählich fühlte er sich jeden Tag ein bisschen leichter. Seiner Frau konnte er endlich wieder in die Augen sehen, und sie war so zärtlich und liebevoll zu ihm wie
noch nie. All die Wochen hatte sie sich nämlich gefragt, was mit Marcello los war, hatte ihr Unbehagen auch ein paar Mal angesprochen, aber nie eine Antwort bekommen. Da sie davon überzeugt war, mit dem treuesten Mann unter der Sonne verheiratet zu sein, schob sie sein verändertes Verhalten auf sein krankes Herz. Außerdem tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass auch Männer in die Wechseljahre kommen und ihre Gefühlsschwankungen nicht im Griff haben konnten.
Jetzt war er auf einmal wieder wie früher, und sie versuchte einen neuen Anfang mit ihm, ohne es ihm zu sagen.
Auch die Signora legte weiterhin eine äußerst beruhigende Normalität an den Tag, wenn sie Marcello zufällig im Supermarkt traf. Beide erlebten ein distanziertes aber freundliches Verhältnis, und Marcello atmete auf. So war es nichts Außergewöhnliches, wenn er mit ihr über Pilze sprach oder in der pilzreichen Umgebung ihres Hauses sammelte.
Aber in dem Moment, als er ihre Leiche dort liegen sah, wo all das stattgefunden hatte, was von ihm so erfolgreich verdrängt worden war, brach die Erinnerung vehement wieder über ihn herein. Und er hatte das Gefühl, dass alles ans Tageslicht kommen würde, was damals geschehen war, wenn er zugab, ihre Leiche gefunden zu haben. Sie würden in seiner Vergangenheit bohren und alles, aber auch alles aufdecken, und sein Leben wäre zu Ende.
Allmählich wurde ihm bewusst, dass die Vergangenheit gerade deswegen ans Licht kommen würde, weil er wieder einmal gelogen, geschwiegen und verheimlicht hatte. Die Angst schoss ihm wie ein stechender Schmerz durch den
Kopf. Er schloss die Augen und wünschte sich, an jenem Junimorgen vor zweieinhalb Jahre hätten keine Maschine und kein Notarzt sein Herz wieder zum Schlagen gebracht.
19
Am nächsten Tag war das Haus der Simonettis in Montefiera das reinste Irrenhaus. Telefon und Türglocke läuteten um die Wette, Nachbarn, Freunde, Verwandte und Bekannte kamen, um zu kondolieren, Romano sah auf seinem Sofa Menschen, die er im Dorf niemals gegrüßt hätte, so fremd waren sie ihm. Enzo hatte sich in seinem Zimmer verbarrikadiert
Weitere Kostenlose Bücher