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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Friedhof geht am Weiher ein Weg links ab. Er ist ziemlich holprig. Nach circa zweihundert Metern geht wieder ein breiter Weg links ab, den nehmen Sie aber nicht, sondern den schmalen, der sich von dem breiten Weg wiederum links abzweigt. Das finden Sie, wenn Sie darauf achten. Diesem schmalen Waldweg folgen Sie ungefähr einen Kilometer. Kurz bevor der Weg eine Rechtskurve macht, parken Sie und gehen zu Fuß in der Rechtskurve steil bergab. Sie müssen einem Trampelpfad folgen, der ziemlich zugewachsen ist. Ich hoffe, Sie haben festes Schuhwerk an, denn um diese Jahreszeit sind viele Schlangen unterwegs. Nach fünfhundert Metern müssten Sie das Dach meines Hauses sehen.« Sie machte eine Pause und atmete tief durch. »Kommen Sie. Ich erwarte Sie. Und bringen Sie eine Taschenlampe mit, sonst finden Sie den Rückweg nicht.« Sie legte auf.
    Marcello rief daraufhin sofort Pia an und sagte ihr, dass er noch länger zu arbeiten und keinen Hunger habe. Wenn er fertig sei, würde er noch einen Wein in der Bar auf der Piazza trinken, der Geometer wolle noch mit ihm sprechen, wegen der Versicherung des Zweitwagens seiner Frau. Pia solle nicht auf ihn warten, es könne spät werden. Sie kenne ja den Geometer, es bliebe nie bei einem Wein.
    Marcello versuchte, seiner Stimme einen ruhigen und vollkommen alltäglichen Klang zu geben, aber er sah, dass der Bleistift in seiner Hand zitterte.

    Pia sagte ein paar Mal »va bene« und klang sehr gelassen, Marcello hoffte, dass sie seine Unsicherheit nicht gemerkt hatte.
    Dann schloss er das Büro ab, ließ aber das Licht brennen. Jeder sollte denken, er arbeite noch.
    Den schmalen Waldweg, der zu dem Haus der Signora führte, fand er sofort. Es war zwanzig nach neun, als er seinen Wagen parkte. Er hatte ihn so tief wie möglich ins Gebüsch gefahren, damit er vom Weg aus nicht auf Anhieb gesehen werden konnte. Es war jetzt bereits dunkel, aber er hatte eine Taschenlampe dabei. In seinen Slippern mit dünnen Ledersohlen musste er langsam und vorsichtig gehen. Er trat in Dornen, zerriss sich die Hose am Brombeergestrüpp und konnte nicht verhindern, dass ihm tief hängende Zweige ins Gesicht klatschten. Was tue ich hier überhaupt?, fragte er sich, ich laufe nachts durch den Wald zu einer Klientin und belüge meine Frau? Was soll das eigentlich?
    Sein ungutes Gefühl wurde stärker, als urplötzlich unterhalb der Terrasse, auf der er jetzt stand, das Dach des kleinen Hauses vor ihm auftauchte.
    Er atmete tief durch und kletterte hinunter. Aus dem Küchenfenster drang ein schwacher Lichtschein nach draußen. Marcello konnte durchs Fenster sehen, dass die Signora am Tisch saß und in einem Buch las. Sie trug einen dünnen, seidigen Morgenmantel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Marcello bemerkte sofort, dass sie unter dem Morgenmantel nackt war.
    Er hielt den Atem an, sein Herz klopfte wie wild. Noch war es Zeit, wieder zu gehen, sie morgen anzurufen, sich für sein Fernbleiben zu entschuldigen und einen neuen Termin zu vereinbaren. Aber die Situation begann ihn zu
reizen. Es war alles so absurd und unwirklich. Der dunkle Wald um ihn herum, die Stille, die Einsamkeit und eine fast nackte Frau, die ihn unter einem Vorwand eingeladen hatte. Er hatte das Gefühl, vor dem größten Abenteuer seines Lebens zu stehen, und klopfte an die Tür.
    »Herein!«, rief sie mit einer hellen, fröhlichen Stimme.
    »Permesso«, sagte er und trat ein.
    »Wie nett, dass Sie gekommen sind!« Sie gab ihm die Hand und bat ihn, sich zu setzen. »Nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Glas Wein mit mir. Dann zeige ich Ihnen das Haus.«
    Sie schenkte zwei Gläser aus einer bereits geöffneten Flasche ein und gab ihm eines. »Salute!«
    »Salute«, flüsterte Marcello und trank. Seine Hand zitterte jetzt erst recht.
    »Was für ein herrlicher Mai«, meinte sie und drehte das Glas in ihren Händen. »Hören Sie, wie die Grillen zirpen? Sogar jetzt in der Dunkelheit. Und dann schon im Mai! Das ist vollkommen ungewöhnlich. Sonst beginnt der Gesang der Grillen frühestens Ende Juni, wenn die Glühwürmchen fliegen. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?«
    »Nein«, sagte er und kam sich vor wie ein dummer Junge. »Ich achte auf so etwas nicht, auch nicht wenn ich abends auf meiner Terrasse sitze – nein, das ist mir noch nicht aufgefallen.«
    »Macht ja nichts«, erwiderte sie lächelnd, »aber hier in der Stille hört man ganz genau auf die Geräusche in der Natur.«
    »Haben Sie denn keine Angst? Hier?

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