Hexenkind
endet. Aber das ist egal, wenn man lebendig sein will, muss man solche Risiken eingehen. Auch das ist eine Spur von Freiheit.
An alles, was dann kam, konnte sich Marcello später nur noch mit Mühe erinnern, denn er hatte monatelang, Tag und Nacht, bei jeder Gelegenheit, in der er nicht mit einem anderen Menschen sprach, versucht, das Geschehene zu vergessen, so sehr schämte er sich. Er wusste ganz genau, dass sich in dieser Nacht seine verschüttete Leidenschaft geradezu überschlagen hatte. Gierig wie ein verdurstender
Welpe saugte er an ihren Brüsten, schlürfte ihre Körpersäfte und griff so hart zu, wie er eine Frau noch nie angefasst hatte. Sie stöhnte vor Wonne und ermutigte ihn, noch fester, noch brutaler mit ihr umzugehen, was er auch tat, bis er völlig den Verstand und die Kontrolle verlor. Sie hatte nicht die Spur einer Chance zu verhindern, dass er ihre langen blonden Haare um die Bettpfosten schlang, bis sie sich keinen Zentimeter mehr bewegen konnte, dann spreizte er ihr die Beine und begann sie zu schlagen. Erst spielerisch leicht, dann immer stärker. Sarah hatte die Augen geschlossen und atmete flach und schnell. Die Schläge wurden heftiger, er war wie von Sinnen. Ein letzter verbleibender Urinstinkt befahl ihm aufzuhören, damit kein Unglück geschah. Aber weiterhin wühlte er in ihrem Fleisch, sabberte in ihren Bauchnabel, und schließlich stieß er so fest in sie hinein, dass sich der Hund – jaulend vor Entsetzen – ins Wohnzimmer verzog.
Kurz danach stand ein unerträgliches Schweigen zwischen ihnen. Sarah zog ihren Morgenmantel über und schlang ihn extrem eng um ihren Körper. Anschließend zündete sie sich wortlos eine Zigarette an und sah aus dem Fenster, während sie den Rauch in den Nachthimmel blies. Ebenso wortlos zog sich Marcello an. Er fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben. Er hatte Lust, sie in den Arm zu nehmen, um Entschuldigung zu bitten und zum ersten Mal an diesem Abend zu streicheln, aber er tat es nicht.
Und schließlich ging er mit einem lapidaren: »Bis Dienstag mach ich die Police fertig.« Sie antwortete nicht, bot ihm kein Glas Wein an und bat ihn auch nicht, noch ein paar Minuten zu bleiben. Aber sie lächelte, als er ging.
Wenige Minuten später stand er im stockdunklen Wald, stolperte über wilde Rosen, Erika und Baumwurzeln und suchte mit Hilfe seiner Taschenlampe, die nur noch ein elendig dünnes Licht gab, nach seinem Auto. »Es tut mir leid, Sarah«, murmelte er, »es tut mir so leid.« Und ihm wurde übel bei der Erkenntnis, welche Abgründe es in seiner Seele geben musste, die er bisher noch nicht gekannt, geschweige denn ausgelebt hatte.
Von diesem Tag an versuchte er sich einzureden, Sarah habe ihn verführt, und er habe nur das getan, was Millionen von Menschen jeden Tag taten und was völlig normal war. Es war ein läppischer »Quickie« gewesen, wie er es zu formulieren versuchte, absolut nichts Besonderes, und wenn er vor sich selbst nicht als verklemmter Idiot dastehen wollte, dann verlor er darüber keinen weiteren Gedanken.
Aber genau das gelang ihm nicht. Er war ein Idiot, und er fühlte sich auch wie ein Idiot. Seiner Frau konnte er wochenlang nicht in die Augen sehen, und das schlechte Gewissen schmerzte ihn fast körperlich. Er ging von diesem Tag an stets leicht vornübergebeugt, um die beißenden Stiche in seiner Brust, die er seit der Nacht in Sarahs Haus fast täglich in unterschiedlicher Stärke spürte, etwas zu vermindern.
An einem warmen, sonnigen Junimorgen gegen neun Uhr dreißig fuhr Marcello nach Siena zu einem Kunden. Die Straße war eng und kurvig mit teilweise starkem Gefälle. Außerdem blendete ihn die gleißend helle, fast weißliche Sonne permanent, obwohl er eine dunkle Sonnenbrille trug. Teilweise musste er sogar Schritttempo fahren, weil er
in dem grellen Licht den Verlauf der Straße nicht mehr erkennen konnte. Dieser Umstand rettete ihm wahrscheinlich das Leben.
Marcello war ungefähr fünfzehn Minuten unterwegs, als er beim Fahren plötzlich das Gefühl hatte, die Reifen bekämen keinen Kontakt mehr mit der Straße und der Wagen bewege sich auf Watte. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Die Kurven konnte er nicht mehr richtig ausmachen. Er verlor jedes Gefühl für die Geschwindigkeit, die keineswegs hoch war, aber er glaubte zu fliegen. Der stechende Schmerz in seiner Brust war wieder da, schlimmer als je zuvor, und nahm ihm den Atem. Er saß wie in einem Schraubstock, der ihm das Herz
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