Hexenkind
wird er ausrasten, wenn er nicht ans Ziel kommt. Und dann wird er gewalttätig, das schwör ich dir.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen …«
»Das kannst du dir nicht vorstellen?« Sarahs Stimme wurde hoch und schrill. »Warum glaubst du nicht ein einziges Mal das, was ich sage? Es geht mir auf die Nerven, dass du überall immer nur das Gute vermutest und die Realität einfach nicht sehen willst. Es gibt auch Mörder, Räuber, Betrüger und was weiß ich für Verbrecher auf der Welt, aber das knipst dein Verstand einfach aus!«
»Das knipse ich gar nicht aus! Aber so ist doch nicht Franky!«
»Doch so ist Franky, verdammt noch mal! Herrgott, warum denn nicht? Wer kennt ihn besser? Ich oder du?«
»Ich glaube, wir sollten dieses Gespräch jetzt lieber beenden.« Es war unüberhörbar, wie beleidigt Regine war.
»Natürlich. Wenn dir irgendwas nicht passt oder dich mal irgendjemand kritisiert, dann kneifst du sofort. Man darf dir nichts sagen!«
Regine legte auf. Sarah knallte den Hörer auf die Gabel, schnaufte vor Wut und hatte bereits Minuten später ein schlechtes Gewissen, so mit ihrer Mutter geredet zu haben. Als sie überlegte, ob sie noch einmal anrufen sollte, fing Elsa an zu krakeelen, und sie ließ es bleiben.
Regine erschien nach ihrem Nachmittagskaffee um halb fünf bei Sarah in der Wohnung, um den Frieden mit ihrer Tochter wiederherzustellen.
Sarah freute sich über den Besuch und nahm als Zeichen der Versöhnung ihre Mutter fest in die Arme. Auf dem Couchtisch lag ein Buch über »Stalking«. Regine sah es sich interessiert an und schlug wahllos eine Seite auf. Ein Satz, den Sarah rot unterstrichen hatte, fiel ihr sofort ins Auge, und sie las ihn laut: »Verfolgung ist die Vorstufe zur Tötung!«
»Mein Gott, Kind«, sagte Regine und sank aufs Sofa. »Meinst du nicht, dass du jetzt ein bisschen übertreibst?«
Regine hatte Gummibärchen mitgebracht, die Elsa über alles liebte. Sie riss die Tüte sofort auf und stopfte sich eine Handvoll Gummibärchen in den Mund.
»Nicht so viel auf einmal!«, sagte Sarah. »Iss langsam, oder ich nehm dir die Tüte weg!«
Die Drohung wirkte. Elsa sah Sarah entsetzt an und begann, die Gummibärchen vor sich auf dem Tisch zu sortieren.
Sie legte zwei rote, zwei gelbe, zwei weiße und ein grünes nebeneinander und sagte: »Sieben.«
Sarah glaubte sich verhört zu haben. »Was hast du da gesagt?«
»Sieben«, wiederholte Elsa grinsend und mit vollem Mund. »Darf ich sieben essen?«
»Du darfst sogar noch mehr essen.« Sarah legte zwei weitere rote Gummibärchen dazu. »Wie viele hast du jetzt?«
»Neun«, antwortete Elsa.
»Das Kind kann ja rechnen! Mit drei Jahren ist das allerhand. Aber da siehst du mal, was es ausmacht, wenn ein Kind zwei intelligente Eltern hat!«
»Ich hab ihr das nicht beigebracht!« Sarah hörte nur mit halbem Ohr zu, was ihre Mutter sagte, sie war ganz auf Elsa konzentriert. »Wie viele rote Gummibärchen liegen denn jetzt auf dem Tisch?«
»Vier«, sagte Elsa wie aus der Pistole geschossen, stopfte eins in den Mund, grinste und fügte triumphierend hinzu: »Jetzt sind es nur noch drei!«
»Phantastisch«, murmelte Sarah. »Das ist phantastisch!«
Elsa rechnete begeistert immer weiter. Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Bis fünfzehn kannte sie alle Zahlen und konnte mühelos addieren und subtrahieren.
»Woher kannst du das? Wer hat dir das beigebracht?« Elsa zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ich kann das eben.«
»Und warum gerade bis fünfzehn?«
»Im Kindergarten sind fünfzehn Kinder«, erklärte Elsa. »Und fünfzehn Tuschkästen und fünfzehn Tassen und so. Aber keine fünfzehn Spaghetti«. Sie lachte sich kaputt und stopfte sich weiter Gummibärchen in den Mund.
Als Regine gegangen war, verbrachte Sarah den Abend damit, Elsa Rechenaufgaben zu stellen. »Was ist denn vierzehn weniger sechs?« – »Acht.« – Sieben und fünf?« – »Zwölf.« – »Drei und fünf und zwei und drei?« – »Dreizehn.«
Es war kein Zufall. Elsa rechnete wie der Teufel, strahlte, klatschte in die Hände und schrie kein einziges Mal.
»Komm her«, meinte Sarah, »setz dich, jetzt wollen wir mal sehen, ob du auch schon lesen kannst, und nachher bringe ich dir bei, wie man deinen Namen schreibt.«
Elsa war das glücklichste Kind der Welt. Sie kuschelte sich an ihre Mutter und buchstabierte. Nach wenigen Tagen las sie schon vollkommen selbstständig »Malwine in der Badewanne« und »Der kleine Hamster Hans.«
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Sie
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