Hexenkind
nahm Elsa in den Arm.
»Mein großes, tapferes Mädchen«, flüsterte sie. »Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon.«
»Ich hab dich lieb, Mama«, hauchte Elsa und drückte ihr einen dicken feuchten Kuss auf die Wange.
22
»Gib mir Elsa, dann lass ich dich in Ruhe.«
»Du spinnst ja wohl.«
»Sie ist auch meine Tochter.«
»Hast du vergessen, dass du ihr schon x-mal den Hals umdrehen wolltest? Sie schreit, vergiss das nicht, und du bist der Letzte, der das ertragen kann.«
»Ich will Elsa, oder ich mach dir das Leben zur Hölle.« Damit legte Franky auf.
Sarah beschloss, Elsa vorerst nicht in den Kindergarten zu schicken, was Kerstin, die Erzieherin, wundervoll fand.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie am Telefon. »Du kannst Elsa jederzeit zu Hause lassen, kein Problem, ich weiß Bescheid. Und wenn du sie wiederbringen willst, ruf bitte kurz vorher an, dann ist alles klar.« Sie hatte diesen berühmten triumphierenden »Lächler« in der Stimme, der Sarah wütend machte, denn jetzt hatte sie den ganzen Tag Elsa auf dem Hals. An Studieren war gar nicht mehr zu denken, ihre Magisterarbeit schrieb sie nicht weiter, alles stagnierte, und Sarah fiel die Decke auf den Kopf.
Elsa schlief morgens nie länger als bis halb sieben. Dann stand sie sofort auf, marschierte in Sarahs und Romanos
Schlafzimmer, schüttelte Sarah wach und sagte: »Hast du was zu rechnen?«
Sarah quälte sich aus dem Bett, um ihre Tochter mit Aufgaben zu füttern, sich vorlesen zu lassen oder kleine Schreibübungen zu machen. Während sie unter der Dusche stand, fragte Sarah Elsa, die auf dem Toilettendeckel saß und sie erwartungsvoll ansah: »Wenn du eine Geburtstagstorte mit zwölf Tortenstücken hast und drei Kinder kommen zu Besuch, wie viele Stücke bekommt dann jedes Kind?«
»Drei«, sagte Elsa wie aus der Pistole geschossen.
»Wieso drei?«
»Na, weil ich ja auch mitesse. Ist doch wohl logisch. Und dann sind wir vier Kinder und jedes kriegt drei Stücke.«
Elsa war einfach unschlagbar.
Während sie jeden Tag enorme Fortschritte machte und alles Neue, was Sarah ihr beibrachte, aufsaugte wie ein nasser Schwamm, konnte Sarah die ständige Rumhängerei in der Wohnung kaum aushalten. Sie empfand ihre Situation als vollkommen verkorkst, konnte sich kaum noch aufraffen, etwas zu kochen. Für Elsa eine Büchse Ravioli aufzuwärmen, war schon eine riesige Kraftanstrengung.
»Pass auf«, sagte sie eines Nachmittags zu Elsa. »Ich muss mal kurz weg. Ein bisschen was einkaufen.«
»Prima, ich komm mit«, meinte Elsa, klappte ihr Buch zu und sprang auf.
»Nein, du bleibst hier.«
»Warum?«
»Darum.«
»Wie ›darum‹?«
»Ach, Elsa!« Sarah seufzte. »Verstehst du denn nicht? Ich will nicht, dass Franky uns wieder auflauert. Und dich vielleicht
mitnimmt. Dich klaut. Da hab ich Angst vor. Darum musst du hierbleiben. Hier bist du wenigstens sicher.«
»Ich beiße, wenn er kommt.«
»Nein. Wenn du irgendwas an der Tür hörst, rufst du die Polizei an. Okay?«
Elsa nickte. »Okay.«
Sarah ging. Als sie auf der Straße war, sah sie, dass Elsa am Fenster stand und winkte.
Mein großes, kluges Mädchen, dachte sie, und es brach ihr fast das Herz, dass sie sie einsperren musste.
Sie besorgte Kinderbücher und verschiedene Knobelspiele für Elsa und für sich selbst Zeichenpapier, Kohle und Stifte. Wenn sie schon nicht studieren konnte, wollte sie wenigstens ein bisschen zeichnen. Dann schlenderte sie durch die einzelnen Abteilungen des KaDeWe, widerstand der Versuchung, sich einen Pullover zu kaufen, den sie traumhaft schön fand, stöberte lange in der Buchabteilung und trank schließlich im Restaurant einen Kaffee. Sie saß an einem kleinen Tisch am Fenster, sah über die Stadt und überlegte, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie das letzte Mal ganz allein einen Nachmittag verbracht hatte. Und in diesem Moment kamen die Angst und das schlechte Gewissen über sie wie eine Lawine, die den völlig ahnungslosen Skifahrer unter sich begräbt.
Elsa war allein. Sie war drei Jahre alt, fast vier zwar, aber das machte keinen Unterschied. Sie war klug, aber sie kannte nicht alle Gefahren dieser Welt. In einer Wohnung konnten tausend Dinge passieren. Und dann war da noch Franky. Franky, der vielleicht nur auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte.
Sarah sprang auf und rannte durch das Kaufhaus, suchte hektisch den richtigen Aufzug, mit dem sie ihr Parkdeck erreichen konnte.
Auf Parkdeck fünf öffnete sich die
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