Hexenkind
Fahrstuhltür mit einem leisen Klingelton. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie ihr Auto geparkt hatte, es musste auf der dem Fahrstuhl gegenüberliegenden Seite stehen. Sollte sie rechts oder links um den mittleren Teil mit der Auf- und Abfahrt herumlaufen?
Plötzlich begriff sie. Das Parkdeck sah jetzt völlig anders aus, als vor einigen Stunden. Es war fast leer. In einer Viertelstunde würde das Kaufhaus schließen, es waren kaum noch Kunden im Haus, und auf diesem oberen Parkdeck parkte fast niemand mehr. Sie war allein.
Sie ging nach links. Zügig und mit festem Schritt, obwohl sie sich so hilflos fühlte wie noch nie. Es war totenstill. Nur ihre Schritte hallten in dem leeren Betonbau.
Ein Schlüsselbund fiel zu Boden. Sarah zuckte zusammen und blieb stehen. Da war jemand. Sie war doch nicht allein. Irgendjemand beobachtete sie, wartete auf sie. Wahrscheinlich an ihrem Auto.
Eine Autotür schlug zu. Sie sah sich um.
Niemand.
Panik erfasste sie. Sie fühlte sich in der Falle und hastete aus einem Impuls heraus zurück zum Fahrstuhl. Wenn sie Glück hatte, war der Fahrstuhl noch da, und sie konnte das Parkdeck verlassen, bevor dieser Jemand, der sich hinter irgendeiner Säule versteckte, das Treppenhaus erreichen konnte.
Der Fahrstuhl war nicht da. Sie hämmerte auf den Knopf, betete um ein kleines Bisschen Glück, um eine Rettung in
letzter Sekunde. Ihr brach der Schweiß aus. Die Sekunden vergingen wie endlose Minuten.
Der Fahrstuhl kam, die Tür öffnete sich, Sarah sprang hinein und drückte den Knopf eines Stockwerks. Nun komm schon, flehte sie in Gedanken, geh endlich zu, mach, bitte, mach schnell! Die Tür schloss sich unendlich langsam, wie in Zeitlupe – und als sie sich schon in Sicherheit wähnte, stellte er den Fuß in die Tür.
Sarah schrie auf, als sich die Fahrstuhltür öffnete.
Franky hatte ein Messer in der Hand.
Sarah stand bewegungslos an der Wand des Fahrstuhls und wagte kaum zu atmen, als sich die Tür wieder schloss. Der Fahrstuhl fuhr los. Blitzschnell drückte Franky auf den Nothalteknopf, so dass der Fahrstuhl zwischen zwei Etagen zum Stehen kam.
»Jetzt haben wir ein bisschen Zeit, mein Engel, sonst redest du ja nicht mit mir.«
Er drückte ihr das Messer an die Kehle und seinen Unterkörper gegen ihren. Sie konnte sein Gesicht gar nicht sehen, so nah war er ihr.
Er wird mich umbringen. In ihren Gedanken kreiste nur dieser eine einzige Satz.
»Komm zu mir zurück, Sarah«, flüsterte er. »Wir werden alles ändern. Ich werde aufhören zu kiffen und zu saufen, und wir werden zusammen leben wie eine ganz normale kleine Familie.«
»Nein«, sagte sie und wunderte sich, woher sie den Mut und die Kraft dazu hatte.
Die kalte Klinge an ihrer Haut machte sie nervös. Sie versuchte, einen langen Schwanenhals zu machen, um sie nicht mehr zu spüren, aber es gelang ihr nicht.
»Ich kann ohne dich nicht leben. Wie wichtig du mir bist, habe ich jetzt erst gemerkt«, hauchte er ihr ins Gesicht. Sein Atem roch säuerlich, wie nach Erbrochenem.
»Es geht nicht, Franky. Es ist unmöglich.« Sie röchelte fast. Er wird mich umbringen. Er wird mich umbringen. Sie war zu keinem anderen Gedanken fähig.
»Ich bitte dich um Verzeihung. Hörst du? Ich – entschuldige – mich!«
»Mit einem Messer in der Hand?« Sie lachte kurz auf.
»Es tut mir leid, Sarah. Reicht das nicht? Soll ich noch vor dir auf die Knie fallen?«
»Du sollst mich in Ruhe lassen. Das ist alles.«
Sarah sah den Zorn in seinen Augen aufblitzen und wusste, dass die Explosion kurz bevorstand.
»Okay.« Er grinste. »Ganz wie du willst. Ich hab nichts zu verlieren.«
»Hilfe!!!!«, schrie Sarah so laut sie konnte. »Hiilll-feee!«
Franky hielt ihr den Mund zu. »Halt verdammt noch mal die Schnauze.«
Ein Stockwerk tiefer waren jetzt mehrere Männerstimmen zu hören. Im Fahrstuhl knackte es. Franky wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.
In diesem Moment ruckte der Fahrstuhl und fuhr nach unten. Ein letztes Mal drohte er ihr mit dem Messer. »Freu dich nicht zu früh! Ich kriege dich!«
Als sich die Tür öffnete, sprang Franky aus dem Fahrstuhl, rannte blitzschnell an den verdutzten Menschen, die vor der Tür standen, vorbei und entkam ins Kaufhaus.
Sarah sackte zusammen.
Sie wusste später nur, dass sie in einem Notarztwagen transportiert worden war. Ein fremdes Gesicht beugte sich über sie, fragte sie nach ihrem Namen und danach, was eigentlich passiert war. Das Gesicht gehörte
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