Hexenkind
aus seinen Gedanken, weil es an der Tür klingelte. Es war kurz nach drei. Enzo hatte das Fenster weit offen, die Luft war heute – Ende Oktober – beinah sommerlich warm. Teresa hatte versprochen, ihm seinen Espresso zu bringen, aber bis jetzt wartete er vergebens. Er hatte versucht, nach dem Mittagessen eine halbe Stunde zu schlafen, doch auch das war ihm nicht gelungen. Sarah war tot, und er würde nie wieder schlafen können.
Er hörte, dass die Carabinieri ins Haus kamen. Donato Neri und Tommaso Grotti. Teresa verschwand mit ihnen im Wohnzimmer. Enzo wusste, dass Befragungen dieser Art Teresa einen Heidenspaß machten. Sie würde reden. Mehr als sie wusste und mehr als der Sache zuträglich war.
Enzo schloss das Fenster. Auf den Espresso würde er heute Nachmittag wohl verzichten müssen. Er fuhr mit dem Rollstuhl in eine Ecke neben dem Kamin, wo sich um diese Zeit die Sonnenstrahlen bündelten, faltete seine Hände über dem Bauch, schloss die Augen und gab sich wieder seinen Erinnerungen hin.
Sarah mochte ihn vom ersten Augenblick. Sie hatte viel mit der Wohnung zu tun, und Enzo hatte Zeit. Es lag Schnee, und weder in den Oliven, den Weinbergen oder im Wald gab es Arbeit. Er war überall dort, wo er gebraucht wurde. Half Romano beim Renovieren oder passte auf Elsa auf. Er tat es so unaufdringlich und selbstverständlich, dass Sarah sich ihm gegenüber völlig entspannte. Sie hatte nicht das Gefühl, sich zwanzigmal am Tag bei ihm bedanken zu müssen, er war einfach da. Im Gegensatz zu Enzo demonstrierte Teresa, wie viel Arbeit sie hatte und was sie alles tat, um Romano und Sarah zu helfen. Wenn man sie sah, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn oder schnaufte erschöpft, sie erzählte, was sie bereits alles getan hatte und ließ einem nie die Zeit, sie in den Arm zu nehmen und zu sagen: »Hast du Lust auf einen Kaffee? Ich finde, wir haben uns eine Pause verdient.«
Bei Enzo war dies immer und überall möglich, obwohl er sich nicht weniger einsetzte als Teresa. Sarah liebte es, bei ihm zu sitzen und mit ihm zu reden. Enzo wandte unendliche Geduld auf, ihr Italienisch beizubringen, und Sarah machte große Fortschritte. Dadurch wurde sie bei Teresa nicht beliebter. Teresa befürchtete, ihrer Konkurrentin – und so sah sie Sarah – das ganze Feld überlassen zu müssen. Nicht nur ihren Sohn, sondern auch noch ihren Mann.
»Enzo, ich mag dich«, sagte Sarah schon nach wenigen Wochen, drückte seine Hand und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist für mich wie ein Vater, von dem ich immer geträumt habe. Bei dem ich Kind und hilflos sein darf und dem ich alles erzählen kann.«
Er erschrak erneut, als Neri und Grotti anklopften und nach einem fast unhörbaren »Permesso« das Zimmer betraten.
»Mi scusi«, sagte Neri und kam langsam näher. »Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Sicher«, meinte Enzo. »Aber haben Sie nicht schon mit meiner Frau gesprochen? Sie weiß auf alle Fälle mehr als ich.«
»Das kann sein. Aber wir würden gern auch mit Ihnen reden.«
Enzo nickte. »Könnten Sie mir ein Glas Wasser besorgen? Ich habe heute noch keinen Kaffee gehabt und einen schlechten Geschmack im Mund.«
Tommaso verließ kommentarlos den Raum und kam nach kurzer Zeit mit einem Espresso und einem großen Glas Wasser wieder.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Neri.
»Nicht gut. Eigentlich richtig schlecht. Mein Leben hat keinen Sinn mehr ohne Sarah.«
»Das, was Sie sagen, ist ungewöhnlich für einen Schwiegervater.«
»Mag sein. Aber so ist es.«
»Sie haben sie geliebt?«
Enzo nickte und war schon wieder den Tränen nahe. »Wie eine Tochter. Und mehr als ich es Ihnen beschreiben kann.«
Neri und Tommaso warfen sich einen vielsagenden Blick zu, den Enzo nicht mitbekam, da er sich gerade die Nase putzte.
»Sie hatten viel Kontakt miteinander?«
»Wir haben uns unterhalten. Täglich. Eigentlich ständig.«
»Worüber?«
»Über alles.« Enzo lächelte zum ersten Mal. »Über das Leben und die Liebe, die Sorgen, die kleinen Freuden … Sie erzählte mir alles, was sie bewegte.« In dem Moment, als er es aussprach, schoss ihm durch den Kopf, dass diese Offenheit vielleicht ein Fehler gewesen sein könnte.
Neri hakte auch sofort nach. »Dann können Sie uns sicher helfen und uns sagen, ob Signora Simonetti einen Liebhaber hatte.«
Enzo hörte vor Schreck auf zu atmen. »Könnte ich vielleicht noch ein Glas Wasser haben?«
Tommaso nahm das leere Glas und rannte
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