Hexenkind
noch die Benedettis und einige Gäste am Tisch auf einen immer wieder allerletzten Drink. Unter ihnen auch Sarah, die sehr still war und sehr müde aussah. Rico war nicht mehr da. Sein Auto – das den Berg ohne Mühe schaffte – war verschwunden, und niemand hatte ihn wegfahren sehen. Auch bei den Benedettis hatte er sich nicht verabschiedet.
Enzo saß still am Tisch, zerknickte leere Plastikbecher und riss sie anschließend in dünne Streifen, sodass sie aussahen wie eine palmenartige Tischdekoration.
Romano setzte sich neben Sarah und legte den Arm um ihre Schultern. »Es tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe, aber ich tue dem alten Benedetti gern einen Gefallen. Wer weiß, vielleicht bin ich irgendwann auf seine Hilfe angewiesen.«
Sarah lächelte und berührte mit den Fingerspitzen Romanos Wange. »Kein Problem. Mach dir keine Gedanken. Ich habe mich gut unterhalten.«
»Jetzt trinke ich zum Abschied noch einen Grappolino, und dann fahren wir. Einverstanden?«
Sarah nickte nur.
Sie wird müde sein, dachte Romano, todmüde.
Zehn Minuten später waren Romano, Sarah und Enzo auf dem Weg nach Hause. Sarah war sehr schweigsam. An der Abzweigung nach Montefiera, ungefähr zehn Meter hinter einem großen Strommast, sagte sie leise: »Es war ein sehr schöner Abend.«
Romano legte seine Hand auf ihr Knie und fuhr langsam weiter. Er hatte das Gefühl, in irgendeiner Weise dazu beigetragen zu haben, dass sie glücklich war. Vielleicht nur dadurch, dass er guten Kontakt zu den Benedettis hatte und zu diesen Festen immer eingeladen wurde.
»Du warst die schönste Frau des ganzen Festes!«
Sarah lachte kurz auf, erwiderte aber nichts.
»Ich liebe dich über alles«, meinte er. »Und ich bin sicher, dass wir hier in Italien eine wundervolle Zeit vor uns haben.«
Sarah drückte dankbar Romanos Hand.
Enzo hatte auf der Rückbank jedes Wort gehört. Und es lag nicht an der Kühle der Nacht oder an der Müdigkeit, dass er anfing zu zittern.
33
Am Tag nach dem Sommerfest bei den Benedettis ging Rico nicht zur Arbeit. Er lag auf seinem Bett wie tot und war unfähig sich zu bewegen. Er hatte das Gefühl, sein Schädel würde platzen, wenn er es auch nur versuchen würde, sich aufzusetzen.
Kurz vor zwölf Uhr mittags kam seine Mutter ins Zimmer.
»Mein armer Junge«, sagte sie, setzte sich aufs Bett und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Geht es dir nicht gut?«
Rico schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich wusste nicht, dass man so schreckliche Kopfschmerzen haben kann«, flüsterte er und hielt die Augen geschlossen.
Roberta sparte sich jeden Kommentar, legte ihm ein nasses, kühles Tuch auf die Stirn, flößte ihm zwei Aspirin ein und stellte einen Eimer neben sein Bett. Für alle Fälle. Zwei Stunden später brachte sie ihm eine heiße, salzige Brühe, die Rico dankbar schlürfte. Am frühen Abend war er in der Lage sich aufzusetzen.
Allmählich kehrte die Erinnerung zurück, eine Erinnerung, die er gar nicht glauben konnte. Alles war vollkommen unwirklich, wie ein aberwitziger Traum.
Am späten Abend trank er noch eine Brühe und schlief danach traumlos und tief.
Die Kopfschmerzen waren am nächsten Morgen zwar verschwunden, aber dafür fielen ihm immer mehr Einzelheiten ein. Einzelheiten, die ihm jetzt so plastisch vor Augen standen, dass er es kaum aushielt. Er rief im Krankenhaus an und meldete sich krank.
Seine Mutter beobachtete ihn in den nächsten Tagen argwöhnisch. »Was ist mit dir?«, bohrte sie. »Hat es mit diesem Luder zu tun, dieser Hexe aus Montefiera, die dir den Kopf verdreht hat?« Eine Antwort wartete sie gar nicht ab, sie kannte sie sowieso. »Schlag sie dir aus dem Kopf«, sagte sie. »Die Schlampe hat einen Mann und wartet nicht auf einen wie dich. Da kannst du sicher sein. An so eine kommst du nicht ran, aber das ist auch gut so. Es hat jedenfalls überhaupt keinen Sinn, hier herumzuhängen und Trübsal zu blasen. Morgen gehst du wieder zur Arbeit. Basta.«
Rico nickte, verließ das Haus und fuhr nach Montefiera.
Er trug eine viel zu weite, ausgewaschene Jeans, die über dem Hintern schlabberte, was noch dadurch verstärkt wurde, dass er sein Portemonnaie in der rechten Gesäßtasche trug. Fünfzigtausend Lire hatte er dabei, das war mehr als genug für eine Karaffe Wein und eine Mahlzeit.
Als er die Terrasse der Trattoria betrat, verließ ihn fast der Mut, dann setzte er sich aber doch. Von hier aus hatte er einen phantastischen Blick auf Monte Calma.
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