Hexenkind
Morgen um sechs stand er auf, um sechs Uhr dreißig fuhr er ins Krankenhaus und um sechzehn Uhr dreißig kam er nach Hause zurück. Dann erledigte er Gartenarbeiten, führte Reparaturen am Haus aus oder fuhr nach Montevarchi in den Supermarkt, um für die ganze Woche einzukaufen. Hin und wieder brachte er Roberta in Levane zum Frisör und wartete geduldig zwei Stunden, bis sie fertig war.
Er war ein verdammt guter Junge. Robertas Lebensversicherung und Altersversorgung. Sie war vollkommen zuversichtlich, nicht einsam sterben zu müssen.
Roberta sah sofort, wie Rico Sarah fixierte, bereits öffentlich anbetete, obwohl er genau wusste, dass er chancenlos war, denn sie war die Frau von Romano Simonetti.
Sarahs Gang war federleicht, als sie auf die gedeckten Tische zuging. Sie bewegte sich wie eine Artistin, die im nächsten Moment in den Spagat fallen und ihre Knie küssen würde. Alle sahen sie an. Möglichst unauffällig, aber die italienischen Frauen registrierten sofort, wohin ihre Männer starrten.
Es war vor allem ihre Kleidung, die allen den Atem nahm. Sarah trug eine weiße, enge Hose und darüber eine knappe, extrem enge hellblaue Bluse, die bei jeder Bewegung, die sie machte, leicht chargierte und silbrig schimmerte. Aber es war nicht die Bluse, die den Männern den Verstand raubte und auch nicht ihr lockeres blondes Haar – es war die leicht durchsichtige Hose, die keinen
Zweifel darüber ließ, dass sie nichts darunter anhatte. Sie trug ihre zu erahnende Nacktheit zur Schau, und die Bewohner des Valdambra sahen mehr oder minder fasziniert dabei zu.
Flammend rot hockte Rico während der nächsten Gänge vor seinem Teller und spürte die Nähe Sarahs, die ihm schräg gegenübersaß und stets lächelte, wenn er zufällig ihrem Blick begegnete. Er stocherte lustlos in seinem Essen herum, sein Hals fühlte sich rau und trocken an, und Rico fürchtete bei jedem Bissen, zu ersticken. Es war ihm gleichgültig, ob er Ente, Wachtel oder Rind auf seine Gabel spießte, er schmeckte nichts mehr, obwohl es in seinem Leben sonst nichts Schöneres gab als gutes und reichliches Essen. Sarahs Gegenwart machte ihn völlig hilflos, und es gelang ihm nicht, auch nur einen Satz mit ihr zu wechseln.
Nach dem Essen begann eine vierköpfige Band zu spielen, und die Italiener ließen sich nicht lange auf die Terrasse bitten, die als Tanzfläche diente. Romano tanzte als Erster mit seiner Frau, die neidischen Blicke der anderen machten ihn stolz und beinah glücklich. Am liebsten wäre er sofort mit Sarah nach Hause gefahren, am liebsten hätte er ihr verboten, mit anderen zu tanzen und sich weiter zur Schau zu stellen, aber das war nicht möglich. Sarah blühte geradezu auf, sie genoss das Fest in vollen Zügen und tanzte ununterbrochen.
Rico trank drei Grappa hintereinander, ignorierte den vorwurfsvollen Blick seiner Mutter, stolperte zu Sarah und verbeugte sich.
»Machen Sie mir die Freude, mit mir zu tanzen?«, brachte er umständlich hervor, und Sarah lächelte.
»Natürlich, sehr gern sogar«, antwortete sie und ging mit ihm zur Tanzfläche.
Rico tanzte wie ein Bär auf glühenden Kohlen. Es machte ihm Schwierigkeiten, Arme und Beine zu koordinieren, und als ein Lied im einfachen Viervierteltakt gespielt wurde, zog Sarah ihn an sich. Mit der simplen Schrittfolge kam Rico zwar zurecht, nicht aber mit Sarahs Nähe.
Ihm brach der Schweiß aus.
Roberta ließ die beiden Tanzenden nicht aus den Augen. Sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper und fröstelte, obwohl die Nacht ungewöhnlich warm war. Für eine Sekunde begegnete Robertas Blick dem der Signora. Sarah hatte den zufriedenen und satten Blick einer Raubkatze, die Beute gemacht hatte.
»Bitte, fahr mich nach Hause«, befahl Roberta barsch, als Rico an den Tisch zurückkehrte. »Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.«
Rico nickte stumm, warf Sarah einen enttäuschten Blick zu, da er gern noch weitergetanzt hätte, und fuhr seine Mutter in seinem kleinen Suzuki-Jeep, den er brauchte, wenn er in den Wäldern jagte, nach Cennina.
Zu Hause angekommen, kündigte Roberta an, den Notarzt zu rufen, wenn es noch schlimmer werden sollte. »Bleib bei mir«, jammerte sie. »Mein Kopf platzt, Ricci, kannst du dir vorstellen, was das für Schmerzen sind?«
Rico brachte sie ins Bett, kochte ihr einen Tee und hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Und obwohl er ein verdammt schlechtes Gewissen hatte, fuhr er noch einmal zurück zum Fest. Mit der Hoffnung auf einen
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