Hexenkind
nichts. Es ist nicht wiederholbar. Wann begreifst du das endlich?«
»Schon gut.« Er schniefte und war den Tränen nahe. »Schon gut«, wiederholte er schließlich, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
»Ciao, bello«, sagte sie sanft und küsste Rico auf die Wange.
Dann war sie verschwunden.
Rico ließ sich krankschreiben und blieb eine Woche im Bett. Seine Mutter wusste es nicht, aber sie vermutete, dass seine Krankheit, die sich weder in Erkältungssymptomen noch in Schmerzen, Ausschlag oder Fieber äußerte, mit dem Luder aus Montefiera zu tun hatte. Sie pflegte ihn, aber Rico zeigte keine Reaktion. Er schluckte widerstandslos und unbeteiligt alles, was sie ihm zum Essen und Trinken hinstellte, und die übrige Zeit lag er still und teilnahmslos auf dem Rücken, wie ein Komapatient, der von seiner Umwelt nichts mehr wahrnimmt. Er sagte nichts, er fragte nichts, er antwortete nicht.
Nach einer Woche stand er auf, duschte, zog sich schweigend an und fuhr zu seiner Arbeit ins Krankenhaus. Wenn er heimkehrte, blieb er verschlossen und still. Seine Mutter kam sich vor, als hätte sie den ganzen Tag eine Tarnkappe auf dem Kopf, da er überhaupt nicht mehr mit ihr kommunizierte. Er war ein lebendiger Mensch, der innerlich abgestorben war.
Roberta versäumte keine Morgenandacht und keinen Sonntagsgottesdienst. Sie kniete auf der harten und unbequemen Kirchenbank, obwohl ihre Knie unerträglich schmerzten, verfluchte Sarah Simonetti und betete um eine gerechte, aber vor allem harte Strafe für diese Hexe und um Gnade für ihren Sohn, auf dass er wieder seinen Frieden finden und in die Welt zurückkehren möge.
35
Teresa und Elsa saßen hinter dem Haus in der Sonne vor der weit offen stehenden Küchentür und pellten Tomaten. Wie jedes Jahr waren Ende Juni die Tomaten reif und kosteten auf dem Markt nur ein paar Lire pro Stiege. Jeden Morgen holte Romano vier bis sechs Stiegen, die Teresa dann zu Tomatensoße verarbeitete. Die Tomaten wurden kurz überbrüht, geschält, klein geschnitten und dann zusammen mit Knoblauch, Pfeffer, Salz, Basilikum und reichlich Peperoncinipulver so lange auf kleiner Flamme gekocht, bis der Saft leicht eindickte und das Tomatenmus in Weckgläser eingefüllt werden konnte. In diesen Tagen stellte Teresa den Vorrat an Tomatensoße für den gesamten Winter her, der in der Trattoria und in den beiden Haushalten benötigt wurde.
Elsa hatte ein riesiges Messer in der Hand und schnitt die gepellten Tomaten in kleine Würfel. Wenn sie ungeduldig wurde, manschte sie mehr, als sie schnitt. Teresa guckte dann streng über ihren Brillenrand, sagte aber nichts.
»Was ist eigentlich ein Kind der Liebe?«, fragte Elsa plötzlich.
Teresa hielt überrascht inne und hörte einen Moment auf, den Tomaten die Haut abzuziehen. »Wie kommst du denn darauf?«
»Weil Mama manchmal sagt, Edi ist ein Kind der Liebe.«
»Ah ja.« Teresa hatte wenig Lust auf Gespräche dieser Art.
»Und was ist nun ein Kind der Liebe?« Elsa blieb hartnäckig.
»Wenn zwei Menschen sich sehr lieb haben und dann gemeinsam ein Kind bekommen, dann ist das ein Kind der Liebe.«
»Bin ich auch ein Kind der Liebe?«
Teresa seufzte entnervt. »Das nehme ich doch an.«
»Wieso weißt du es nicht?«
»Weil ich nicht hellsehen kann.«
»Aber Mama und Papa haben sich doch lieb.«
»Elsa, bitte, frag mir keine Löcher in den Bauch. Ich muss die nächsten Tomaten überbrühen.«
Sie stand auf und ging in die Küche, Elsa folgte ihr.
»Aber warum sagt Mama, dass nur Edi ein Kind der Liebe ist? Und ich nicht? Und dass er deswegen glücklicher ist? Und ich nicht?« Elsa wurde immer hektischer.
»Herrgott noch mal, oh Dio mio, Porcamiseria, weil Romano eben gar nicht dein Vater ist, Elsakind! Madonna, ist das denn so wichtig? Und vielleicht hat sie sich mit deinem Vater nicht so gut verstanden? Das weiß ich doch nicht! Und jetzt lass mich in Ruhe!«
Ohne ein weiteres Wort lief Elsa aus der Küche, nahm das Messer, rammte es mit einem gewaltigen und kraftvollen Stoß in den derben Holztisch und rannte die Dorfstraße hinunter.
Elsa wusste, wo das Olivenfeld war, in dem Romano das Gras zwischen den Bäumen mähte. Sie hatte einen hochroten
Kopf und bekam kaum Luft, als sie Romanos Raupenfahrzeug entgegenrannte. Romano bremste und hielt an.
»Tesoro«, rief er und lächelte. »Komm, her zu mir, du darfst auch mal lenken.«
Elsa antwortete nicht. Die Sechsjährige stand mit in den Hüften gestemmten Armen und
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