Hexenkind
weiteren Tanz mit Sarah.
Es tanzten nur noch wenige, als er wiederkam. Sarah war nicht zu sehen. Rico setzte sich an einen der Tische und begann zu trinken. Einen Grappa nach dem anderen.
Eine halbe Stunde später hatte er seine Mutter vergessen, hatte vergessen, dass er übergewichtig war und dass ihm die Haare bereits jetzt mit vierunddreißig ausfielen und tiefe Geheimratsecken geformt hatten. Er hatte vergessen, dass er noch nie mit einer Frau eine Nacht verbracht hatte, sondern nur einmal Carola, der Tochter des Küsters, neben der Sakristeitür von San Antonio in Loro Ciufenna in die Bluse gefasst und sich einen schmerzhaften Tritt in den Unterleib eingehandelt hatte.
Seitdem hatte er nie wieder irgendetwas versucht. Wenn seine Mutter ab und zu zum Essen bei ihren Freundinnen war, sah er sich Pornovideos an, die er sich in einer kleinen schmuddeligen Videothek in Arezzo auslieh, wo ihn keiner kannte. Und allmählich wurde er vertraut mit einer geheimnisvollen, schmutzigen Welt, die nicht die seine war und in der er nichts zu suchen hatte.
Und nun saß er hier auf dieser Bank vor einem der großen Holztische, an dem noch vor ein paar Stunden gegessen worden war, und diese Frau kam auf ihn zu. Sarahs Lächeln glich eher einem amüsiert spöttischen Grinsen, als sie sich neben ihn setzte. Sie rückte so nah an ihn heran, dass ihr Oberschenkel den seinen berührte, obwohl außer ihnen niemand auf der langen Bank saß.
»Gibst du mir auch einen?«, fragte sie und fixierte die Grappaflasche, die vor Rico stand.
Rico nickte, nahm ein unbenutztes Glas von einem Stapel und goss ihr einen Grappa ein. Er nahm sich auch noch einen, obwohl er wusste, dass er längst genug hatte und
morgen wahrscheinlich den ganzen Tag mit Kopfschmerzen würde arbeiten müssen.
Sarah nahm ihr Glas, zwinkerte und prostete ihm zu, er sah ihre hellrosa lackierten Fingernägel an den langen, feingliedrigen Fingern, die ihre ganze Erscheinung noch dünnhäutiger machten, und versuchte darüber nachzudenken, wie alt sie wohl sein möge.
»Mir ist schrecklich heiß«, sagte sie. »Das kommt von der Tanzerei.«
Rico nickte und versuchte freundlich auszusehen. Er konzentrierte sich auf ihre Augenbraue und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich heiße Sarah«, sagte sie nach einer schier endlosen Pause. »Und du?«
»Rico«, hauchte er. »Rico Stocchi.«
Enzo schlenderte herbei und lächelte Sarah zu. »Wo ist eigentlich Romano?«, fragte er. »Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.«
»Er fährt die Leute nach Hause. Es ist so schade. Er kann das Fest gar nicht genießen, weil er nur im Auto sitzt.«
Enzo nickte, wandte sich von Sarah ab und wieder anderen Gästen zu.
»Wir, mein Mann und ich, betreiben die Trattoria in Montefiera«, nahm sie den Faden wieder auf.
»Ich weiß.« Rico grinste unsicher.
»Komisch. Ich hab dich noch nie in Montefiera gesehen.«
»Das kann sein. Ich bin nicht oft da, eigentlich fast nie, aber ich weiß, wer du bist.« Er sah auf die Tischdecke und malte Kreise um sein Grappaglas. »Fast jeder weiß, wer du bist.«
Kaum merklich und für alle anderen Gäste unsichtbar legte sie eine Hand auf Ricos Oberschenkel, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, und als hätte sie dies schon tausendmal getan.
Rico zuckte zusammen. Die zarte Hand, die wie eine Feder auf seinem Bein lag, brannte wie Feuer.
»Was machst du beruflich?«, fragte sie und ließ ihre Hand langsam wandern.
Es war wie ein Stich, der ihm durch den Körper schoss, und er wusste nicht, ob es Lust oder Schmerz war. Ihm wurde schwindlig und so heiß, dass er glaubte, in Flammen zu stehen.
»Ich bin Krankenpfleger im Krankenhaus von San Giovanni«, schnaufte er und bemühte sich gleichzeitig, nicht den Verstand zu verlieren.
»Phantastisch. Ich bewundere Krankenpfleger …« Ihre Finger fingen kaum merklich an zu spielen. Sie klopften und kreisten mit einer Leichtigkeit, und Rico wusste nicht, ob dies wirklich alles geschah oder ob er bald erwachen und in die Wirklichkeit seines Jugendzimmers gerissen werden würde.
»Komm!«, sagte Sarah, zog ihre Hand zurück und stand auf. »Komm!«
Er folgte ihr.
Enzo beobachtete noch, wie die beiden hinter dem Haus über einen Erdwall kletterten und dann im dunklen dichten Wald verschwanden.
Eine Stunde später hatte Romano die meisten Gäste zu ihren Autos gefahren, die im Wald oder auf dem Parkplatz in Montefiera abgestellt waren. Als er zum Fest zurückkehrte, saßen
nur
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