Hexenkind
Gesicht und die Hände, und meist zog sie ihm auch noch ein neues T-Shirt an, weil er jedes Hemd beim Essen vollschleimte. Edi verschwand dann mit Tiger in seinem Verschlag. Nur wenn schlechtes Wetter war, setzte Sarah ihn in sein Zimmer oder ins Wohnzimmer und drückte ihm irgendeinen Gegenstand in die Hand. Ein Bilderbuch oder auch ein altes Telefon, eine ausrangierte Kaffeemaschine oder ein kaputtes Radio, das er auseinandernehmen durfte.
»Spiel schön«, sagte sie, strich ihm flüchtig übers Haar und fuhr los, um Einkäufe für die Trattoria zu erledigen oder den Tag im Casa della Strega zu verbringen. Der von ihr erfundene Name »Casa della Strega« hatte sich bereits in der ganzen Familie und teilweise auch im Dorf durchgesetzt.
Edi war wie ein Möbelstück, das sie jeden Tag in irgendeine Ecke stellte, sich selbst überließ und dann sofort vergaß.
Romano schlief morgens meist etwas länger, weil es für ihn jeden Abend sehr spät wurde. Er machte sich nicht die Mühe zu frühstücken, sondern trank seinen ersten Kaffee meist in Teresas Küche. Danach suchte er Edi, um wenigstens ein bisschen mit ihm zu spielen, bevor er mit den Essensvorbereitungen in der Trattoria begann. In der Hochsaison gab es auch mittags warme Küche.
Mittags fütterte Teresa Edi, ansonsten war er völlig sich selbst überlassen. Manchmal zog er los. Wanderte allein durch die Olivenhaine, Wälder und Weinberge, und niemand wusste wo er war. Es konnte sogar vorkommen, dass stundenlang niemand merkte, dass Edi weg war. Aber er kam immer wieder zurück, wenn er müde, hungrig oder durstig war.
»Wenigstens sein Orientierungssinn funktioniert«, meinte Sarah einmal, als er erst im Dunkeln heimgekehrt war. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie Edi mit elf Jahren stundenlang allein im Wald herumstromern ließ, aber sie wollte ihn auch nicht wegsperren wie einen Hund im Zwinger. Schließlich war er bereits so groß und kräftig wie ein Fünfzehnjähriger. »Wenigstens etwas. Wenn er sich auch noch verlaufen würde, hätten wir hier jeden Tag Theater. Dann müssten wir ihn an die Kette legen.«
Dass sich Edi einfach schrecklich langweilte, konnte sich offensichtlich niemand vorstellen.
Aber Elsa wusste, was Langeweile ist.
Ab und zu nahm sie sich Zeit und setzte sich nachmittags zu ihm. Für die Schule musste sie nichts tun, sie konnte
ohnehin alles. Nur in Sport hatte sie ein Zwei, alle anderen Einsen fielen ihr in den Schoß.
»Hol mir mal den Eimer, Edi«, sagte Elsa, und Edi tat es sofort. Dann stellte sie den Eimer weg und befahl: »Hol mir wieder den Eimer, Edi, aber mach vorher Wasser rein.«
Das war schon schwieriger. Sie übte täglich mit ihm, aber Edi brauchte zwei Wochen, bis er sich gemerkt hatte, dass er zum Wasserhahn an der Hausecke gehen, den Hahn aufdrehen, Wasser einlaufen lassen, den Wasserhahn zudrehen und mit dem Eimer zu Elsa zurückkehren musste. Als er die Aufgabe zum ersten Mal gelöst hatte, nahm sie ihn in den Arm, kraulte ihm den Bauch und fütterte ihn mit Karamellbonbons. Edi war restlos glücklich und wollte von nun an immer wieder Wasser im Eimer holen.
Elsa war unermüdlich im Erfinden von neuen Aufgaben. War sie im Wohnzimmer, sagte sie: »Edi, geh in die Küche und hol mir die Butter.« Wenn Edi die Butter brachte, schickte sie ihn Brot zu holen. Dann ließ sie ihn beides zurückbringen und richtig zurücklegen. Es war ein Problem für Edi zu entscheiden, wo die Butter und wo das Brot hingehörte. Das Brot stopfte er mit Gewalt in den vollen Geschirrschrank, die Butter schob er in die Besteckschublade. Aber er gab sich Mühe. Es war besser, mit Karamellbonbons gefüttert, als gekniffen zu werden.
Nach einer Woche konnte er bereits Brot und Butter wieder richtig im Brotkorb und im Kühlschrank verstauen. Nach zwei weiteren Wochen hatte er gelernt, Butter aus dem Kühlschrank und Brot aus dem Brotkorb zu nehmen, aus der Besteckschublade ein Messer herauszuholen, ein Brot mit Butter zu bestreichen und alles wieder zurückzulegen.
Nach einer weiteren Woche begriff er, dass man ein benutztes Messer in die Spüle legt oder in die Geschirrspülmaschine steckt. Elsa hatte also vier Wochen gebraucht, ihrem Bruder beizubringen, sich ein Brot zu schmieren. Als sie dasselbe mit Orangenmarmelade probten, kapierte Edi viel schneller, weil er es nicht erwarten konnte, das Marmeladenbrot zu essen.
Und wieder kraulte sie ihm nach jedem Erfolgserlebnis den Bauch und stopfte ihm einen Bonbon in den
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