Hexenkind
schmerzenden Zahn genauer zu untersuchen, war ihr ganzer Körper wie elektrisiert. Sie spürte keinen Zahnschmerz mehr, sondern nur noch die unerträgliche Spannung zwischen ihm und ihr. Er war groß, größer als Romano, und sehr schlank. Schon immer hatte sie etwas für diese leptosomen Typen übrig gehabt. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem, der ab und zu wie eine Liebkosung ihr Gesicht streifte, und dachte nicht mehr an ihren Zahn, sondern wünschte die Sprechstundenhilfe zum Teufel, die ihr mit ihrem widerlichen Schlauch, der ihr den Speichel absaugen sollte, im Mund herumfuhrwerkte und deren Gesicht sich ab und zu zwischen ihres und seines schob. Immer wieder sah sie auf seine schönen Hände, die ihr mit ruhigen und sicheren Bewegungen eine Betäubungsspritze setzten.
»Tut es weh?«, fragte er ein paar Mal, und Sarah schüttelte den Kopf.
Als er sie versehentlich an der Hand berührte, zuckte sie derart zusammen, dass er sich sogleich entschuldigte, aber sie lächelte nur und versuchte seinen Blick festzuhalten, als sich ihre Augen trafen. Sie glaubte, er hätte etwas gemerkt.
Während Sarah sich den Mund ausspülte, sah sie auf die Uhr. Es war zwanzig vor acht. Das Wartezimmer war leer,
nur Marisa saß dort und wartete auf sie. Verflucht noch mal, Marisa, dachte sie, ich war schon so nah dran.
»Den Zahn muss ich überkronen«, sagte er, während er sich die Hände wusch. »Das Provisorium hält nicht ewig. In zwei Wochen sehen wir uns wieder.«
Zwei Wochen! In ihren Ohren klang es wie zwei Jahre, aber sie nickte dankbar.
»Er sieht verdammt gut aus«, meinte Marisa, als sie auf dem Rückweg waren, »findest du nicht auch? Die Frauen sind verrückt nach ihm, und er kann sich kaum retten.«
»Ach?« Sarah tat nur wenig interessiert.
»Er war mit einer Italienerin verheiratet, aber die hat ihn vor zwei Jahren verlassen, weil ihr seine Eskapaden allmählich zu bunt wurden.«
Also ein leichtes Opfer. Zumindest keine harte Nuss, verbuddelt unter einem Riesenberg moralischer Bedenken.
»Seine hengstischen Qualitäten interessieren mich nicht«, beruhigte Sarah Marisa. »Hauptsache, er taugt was als Arzt.«
Marisa warf ihrer Freundin einen so komischen Seitenblick zu, als wolle sie sagen: ›Ich glaub dir kein Wort‹, aber Sarah war es egal. Noch war ja nichts passiert, und Marisa guckte gern bedeutungsschwer, besonders, wenn sie auf Grund ihrer leichten Schwerhörigkeit nichts verstanden hatte.
In den nächsten Tagen grübelte Sarah unentwegt, wie sie den Kontakt zu Doktor Holzner, Matthias Holzner, wie sie der Visitenkarte entnommen hatte, möglichst elegant wiederherstellen konnte. Vier Tage später rief sie ihn an. Abends um halb acht in der Praxis.
»Ich habe Schmerzen«, sagte sie. »Irgendetwas stimmt
nicht mit dem Provisorium, und so halte ich die Nacht nicht durch. Kann ich kommen?«
»Gut«, sagte er und klang keineswegs genervt. »Kommen Sie.«
Normalerweise dauerte die Fahrt nach Arezzo fünfundvierzig Minuten, sie schaffte es in fünfunddreißig.
Als Sarah ankam, war die Sprechstundenhilfe bereits nach Hause gegangen, und er trug keinen weißen Kittel mehr. Er lächelte sie an, und Sarah lächelte zurück. Wahrscheinlich sah sie nicht aus wie eine, die vor Zahnschmerzen nicht mehr ein noch aus weiß.
»Was möchten Sie?«, fragte er. »Champagner?«
Alles hatte sie erwartet, aber nicht das. So einfach war das also. Entweder konnte er Gedanken lesen oder war wirklich hypersensibel. Sie musste sich nicht weiter bemühen, musste sich nicht umständlich offenbaren und vielleicht zum Affen machen, es war bereits alles klar.
Und dann passierte es auf dem Zahnarztstuhl. Aufregender als alles, was sie sich in ihren Phantasien bereits hundertmal ausgemalt hatte.
Matthias war bald ständiger Gast im Casa della Strega. Er glaubte, der Einzige zu sein, und Romano, der seine Frau liebte und begehrte wie nie zuvor, dachte das auch.
43
Edi liebte es, sich die Zähne zu putzen, und hielt sich manchmal eine halbe Stunde damit auf, wenn man ihm die Zahnbürste nicht irgendwann wegnahm. Er spuckte dann zwar frustriert gegen den Spiegel, aber er hörte auf mit der elenden Putzerei. Unterdessen kochte Sarah ihm in der Küche seine »gesunde Suppe«, wie sie es nannte: Haferschleim mit Orangen, Honig und Rosinen. Anschließend machte Sarah die Küche sauber, wischte den Haferschleim von Tisch und Stuhl, vom Fußboden und von den Küchenschränken. Sie wusch Edi das
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