Hexenkind
Mund. »Schlauer Edi – tutti paletti«, sagte sie jedes Mal, und Edi sprach den Satz mit Begeisterung nach. Bald wurde »tutti paletti« sein absoluter Lieblingsspruch, und er murmelte ihn zig Mal, wenn er stolz auf sich war, weil ihm etwas gelungen war.
Bereits als Edi zehn Jahre alt war, hatten Elsa und er eine Sprache gefunden, sich zu verständigen, die einzigartig war. Elsa musste nur noch Andeutungen machen, und Edi schoss los, weil er genau wusste, was er zu tun hatte. Wenn sie »Wanne« sagte, rannte er ins Bad, setzte sich in die Wanne und drehte so lange an den Wasserhähnen herum, bis er die richtige Temperatur gefunden hatte. Dann nahm er einen Schuß Badezusatz aus einer gelben Flasche, die die Form eines kleinen Bären hatte, und planschte selig. Elsa erzählte ihm dabei Geschichten von Bären und Kaninchen. Nur wenn sie ihm verbot, das Kaninchen, das alle paar Monate durch ein neues ersetzt wurde, da kein Tier die Strapazen von Edis Gesellschaft lange aushielt, mit ins Wasser zu nehmen, gab es Tränen. Er wollte einfach nicht begreifen, dass für ein Kaninchen nicht gut war, was ihm so großen Spaß machte. »Ohne Boot – Kaninchen tot«, sagte Elsa jedes Mal, und irgendwann leuchtete es Edi ein, dass ein Kaninchen
nicht schwimmen konnte, Angst vor der großen Wanne hatte, so wie er sich vor einem See, ja sogar schon vor dem kleinen Teich in Opas Garten fürchtete.
Elsa wurde für Edi zum ganzen Lebensinhalt. Wenn sie in der Schule war, lief er nervös vor dem Haus auf und ab, saß in seinem Verschlag und wippte mit dem Fuß, holte zwanzig Mal im Eimer Wasser, sagte »tutti paletti« und kreischte vor Freude wie ein Affe im Wald, wenn sie wiederkam. Wenn Sarah oder Romano mit Elsa schimpften oder sie auch nur kritisierten, fletschte er die Zähne und drohte seinen Eltern mit seinen dicken Fäusten. Tag und Nacht sehnte er sich danach, von Elsa gekrault zu werden, und nahm ihr Bild mit in seine Träume. Dass das, was er fühlte, Liebe war, wusste er nicht.
Auch wenn sie keine Zeit für ihn hatte, lief er wie ein kleiner gebückter Schatten immer hinter ihr her. Meist versuchte sie einfach, ihn zu übersehen, und wenn er ihr zu sehr auf die Nerven fiel, schrie sie ihn an. Dann erstarrte Edi für zwei Sekunden und schmiss sich anschließend sofort lang auf den Boden.
»Ich seh dich trotzdem, Edi. Ich seh dich immer. Du kannst dich nicht unsichtbar machen. Steh auf, geh in deinen Verschlag und spiel mit Tiger. Spiel mit Tiger – das ist mir lieber.«
Edi stand in so einem Fall langsam auf und zog sich in seinen Verschlag zurück. Und wartete darauf, dass sie wieder Zeit für ihn haben würde.
Ganz allmählich begann sie, Dinge von ihm zu verlangen, die Edi große Überwindung kosten mussten. Sie wollte wissen, ob er ihr wirklich bedingungslos vertraute und gehorchte.
»Iss das«, verlangte sie und legte einen Regenwurm in seine offene Hand.
Edi sah sie ängstlich an und schüttelte den Kopf.
»Mach es – sonst kracht es.«
Edis Augen weiteten sich vor Angst, aber er schüttelte trotzdem wieder den Kopf.
»Er tut dir nichts. Er ist auch nicht giftig, und er schmeckt wie eine Nudel.«
Edi schüttelte immer noch den Kopf.
»Du glaubst mir nicht?«
Edi hörte gar nicht mehr auf, den Kopf zu schütteln.
»Aha. Edi ist böse. Elsa geht.« Damit drehte sie sich um und lief ins Haus.
Edi stand da wie ein begossener Pudel und zitterte am ganzen Körper. Er guckte unentwegt auf den sich ringelnden Wurm in seiner Hand und roch daran. Ungefähr zehn Minuten stand er da und kämpfte mit sich.
Dann schrie er aus voller Kehle: »Elsaaaaa!«
Elsa kam ans Fenster. »Was denn, Edi?«
Edi stopfte den Wurm in den Mund, kaute hektisch darauf herum und würgte ihn hinunter. Aber er sagte nicht »tutti paletti« und strahlte auch nicht vor Stolz, sondern weinte, als der Wurm endlich heruntergeschluckt war.
Elsa kam aus dem Haus und kratzte ihm die Glatze. »Edi hat Mut – Edi ist gut«, flüsterte sie und schob ihm einen Karamellbonbon in den Mund.
Elsa war jedoch nicht zufrieden, und Edi hatte es noch längst nicht geschafft. Denn jetzt wollte sie es wissen, sie wollte, dass er alles, aber auch alles tat, was sie befahl. Und damit begann Edis Martyrium.
Er brauchte fünfzehn quälende Versuche, bis er die Regenwürmer bereitwillig und ohne sich zu sträuben schluckte.
Sie verlangte von ihm, Gottesanbeterinnen die Beine abzubeißen und Kakerlaken langsam zu zerkauen. Wenn er nicht sofort tat,
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