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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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was sie sagte, schlug sie ihn, ließ ihn allein und kümmerte sich nicht mehr um ihn.
    Edi kämpfte. Und schaffte es jedes Mal, sich zu überwinden. Seine Liebe zu Elsa war stärker als jeder Ekel. Zu groß war seine Angst, sie zu verlieren.

Toskana, Mai 2000 – fünf Jahre vor Sarahs Tod
    44
    Francesco Rossi war vor einer Woche siebzehn geworden und kickte völlig gedankenverloren Kieselsteine gegen einen Müllcontainer, der in unmittelbarer Nähe der Bushaltestelle stand. Es knallte jedes Mal, wenn ein Stein gegen die Plastikwand des Containers prallte. Noch siebzehn Minuten. Dann kam sein Bus, falls er heute ausnahmsweise pünktlich sein sollte.
    Er hörte auf mit der öden Kickerei, hockte sich hin und kramte seine riesige Sporttasche noch einmal von oben nach unten durch, ob er zwischen Schuhen, Hosen, T-Shirts, Trainingsanzug und Handtuch nicht doch noch irgendetwas Trinkbares übersehen hatte. Nach zwei Stunden Fußball auf dem Sportplatz von Bucine waren sein Mund und seine Kehle vollkommen ausgetrocknet. Es passierte ihm immer wieder, dass er vergaß, zwei Flaschen Mineralwasser einzupacken. Nichts. Nulla e niente. Wütend stopfte er die Sachen zurück und zog den Reißverschluss zu.
    Selbst jetzt, Ende Mai, knallte die Sonne am späten Nachmittag noch unbarmherzig. Nirgends Schatten, auch die Bushaltestelle war nur eine einfache Stange auf weitem Feld mit dem schlichten Schild »Fermata« und einem Fahrplan, der das ganze Sommerhalbjahr gültig war.

    Francesco hasste die Fahrerei mit dem Bus, die mit ständigem Warten verbunden war, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte keine Vespa wie die meisten Jungen in seiner Klasse, denn er sparte jeden Cent seines Taschengeldes für eine Operation. Er hatte eine riesige, viel zu lange spitze Nase, und seine Ohren standen wie Bierdeckel vom Kopf ab. So sah er aus wie eine Witzfigur, wie eine Ratte oder eine Fledermaus, und wurde – seit er denken konnte – dafür verspottet. Kam er über den Schulhof, brüllten seine Mitschüler: »Achtung, die Mäusepolizei!«
    Morgens im Spiegel sah er nicht sein Gesicht, sondern eine Fratze, einen ›Tiefflieger im Landeanflug‹, ›Pinocchio‹ oder ›den großen Lauschangriff‹. Er war so unglücklich, dass er mit vierzehn schon einmal versucht hatte, sich an einem Apfelbaum zu erhängen, doch der Ast war gebrochen und hatte ihm das Leben gerettet.
    In Careggi, dem großen Klinikum in Florenz, hatte er sich bereits erkundigt: Es kostete drei Millionen Lire, sich die Nase verkleinern und die Ohren annähen zu lassen, und dieses Geld hatten seine Eltern nicht. Sein Vater arbeitete als Lastwagenfahrer bei der Commune, seine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und seine weiteren drei Geschwister. Die Familie wohnte zusammen mit zwei Katzen und einem spindeldürren Hund, einer undefinierbaren Promenadenmischung, in einem unscheinbaren Haus in Terranuova Bracciolini direkt neben der Autobahn.
    Francesco machte vor Schreck einen kleinen Seitwärtssprung, als ein Wagen scharf bremste und direkt neben ihm hielt.

    »Buonasera«, sagte eine blonde Frau und lächelte. Sie war allein im Auto und beugte sich etwas vor. »Soll ich dich ein Stück mitnehmen? Wo willst du denn hin?«
    »Nach Terranuova«.
    »Kein Problem. Ich will nach Montevarchi. Steig ein.«
    Terranuova Bracciolini und Montevarchi waren mittlerweile fast zusammengewachsen. Von der Entfernung her machte es keinen Unterschied.
    Francesco rührte sich nicht, er war völlig überrumpelt.
    »Na los, nun mach schon! Der Kofferraum ist offen, da kannst du deine Tasche reinstellen.«
    Francesco nickte, und endlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Das war ja irre. Die Frau hielt einfach so an und nahm ihn mit. Vielleicht würde sie ihn ja sogar bis nach Hause fahren.
    Blitzschnell verstaute er seine Tasche im Kofferraum und stieg ein. Kaum hatte er die Beifahrertür zugezogen, startete sie auch schon mit quietschenden Reifen.
    Er betrachtete sie von der Seite. Sie sah toll aus, fand er. Aber sie war viel älter als er. Bestimmt schon dreißig. Ihr Alter war für ihn schwer zu schätzen, da sie eine Sonnenbrille trug. Das Seitenfenster war offen, und ihr blondes Haar flog ihr durch den Fahrtwind ständig ins Gesicht. Immer wieder klemmte sie es mit der linken Hand hinters Ohr, was aber nicht lange etwas nützte.
    »Furchtbar nett, dass Sie mich mitnehmen«, sagte er schüchtern und stützte den linken Arm so auf die Rücklehne, dass er dabei sein linkes

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