Hexenkind
studieren lassen, damit sie Pastateller und Salatschüsseln durch die Gegend trägt, von Trinkgeldern lebt und sich beim Abwaschen verwirklicht!« Seine Stimme überschlug sich fast, und seine Augen waren feucht.
Noch versuchte sich Sarah zu beherrschen. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Was wünschst du dir denn von mir?«
»Komm nach Hause! Beende dein Studium und lebe in der Zivilisation! Suche dir einen vernünftigen Job und lebe nicht wie eine Asoziale! Das, was du tust, kann jede Schwachsinnige machen, die noch nicht mal den Hauptschulabschluss hat!«
Sarah zitterte am ganzen Körper. »Was bildest du dir eigentlich ein, Papa? Was denkst du dir dabei, hier anzukommen und mein ganzes Leben nicht nur in Frage zu stellen, sondern derartig zur Sau zu machen? Bist du wirklich nur angereist, um mir Vorwürfe zu machen? Kannst du mich nicht ein einziges Mal in den Arm nehmen und sagen, es ist gut, was du machst. Ich liebe dich, ganz egal, was passiert, und ich bin immer für dich da, ganz egal, was für einen Fehler du gemacht hast?«
Herbert hatte den Kopf gesenkt und schüttelte ihn unentwegt, was Sarah noch rasender machte.
»Nie hast du mir gesagt, dass du mich liebst und dass du für mich da bist! Mein ganzes Leben lang nicht! Nie hast du dich dafür interessiert, was ich mache! Du hast meine Aufsätze nicht gelesen, wenn ich eine Eins hatte, und hast meine Freunde nicht kennenlernen wollen. Immer wolltest du nur deine Ruhe haben. Ich war nie die Tochter, die du dir gewünscht hast! Vielleicht wärst du ein kleines bisschen zufriedener gewesen, wenn ich Jura studiert hätte und Anwältin in einer renommierten Kanzlei geworden wäre, aber das hat leider nicht geklappt, Väterchen. Jetzt sitze ich hier in der Pampa, verblöde, wie du so schön sagst, aber ich liebe die Menschen, die um mich herum sind. Mehr als dich, Papa. Vielleicht hab ich dich nie geliebt, weil du mich einfach nicht akzeptieren konntest, wie ich war!«
»Du verstehst nichts«, röchelte Herbert.
»Oh doch, ich verstehe sehr gut! Ich verstehe, dass du dir immer eine andere Tochter gewünscht hast, aber den Gefallen kann ich dir nicht tun! Ich kann mir auch keinen neuen Vater suchen, verdammt noch mal!«
Herbert wurde plötzlich steif wie ein Baumstamm. In panischer Angst riss er die Augen auf, und sein Oberkörper knickte ein und kippte vornüber. »Sarah!«, stammelte er. Dann fiel er von der Bank in den Staub.
»Papa!«, schrie Sarah. »Was ist los? Was hast du? Sag doch was? Hol Luft, um Himmels willen, atme!«
Enzo war aufgesprungen.
»Hol die Ambulanza, Enzo«, schrie Sarah. »Schnell! Er hat einen Anfall, einen Herzinfarkt, was weiß ich!«
Enzo war schon unterwegs.
Sarah streichelte die Wange ihres Vaters und weinte. »Es tut mir so leid, Papa, alles, was ich gesagt habe, tut mir so leid. Bitte, bitte, nicht sterben. Ich komm zu dir, ich tu alles, was du willst, aber bitte, bitte nicht sterben!«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Ambulanza kam. Da war Herbert schon nicht mehr ansprechbar. Sarah hielt seine Hand, und Regine sagte kein einziges Wort, als er starb.
DRITTER TEIL
IL TRADIMENTO - DER VERRAT
Toskana, Juni 2004 – ein Jahr und vier Monate vor Sarahs Tod
47
»Resta qui resta qui tu che sei mia. Un attimo e noi voleremo là dove tutto è il paradiso …«, sang Andrea Bocelli auf der Piazza del Campo in Siena. Er stand mit seinen geschlossenen blinden Augen unbeweglich und wie ein Fels auf der gewaltigen Bühne, die vor dem Palazzo Pubblico eigens für dieses Konzert aufgebaut worden war. Ein vierzigköpfiges Orchester begleitete ihn.
An die dreißigtausend Menschen standen dicht gedrängt auf der Piazza. Viele von ihnen hielten Handys in die Höhe, um ihre Freunde, die zu Hause geblieben waren, am Konzert teilhaben zu lassen. Einige standen still versunken, andere summten oder sangen leise jedes Wort des Liedes mit.
Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr, und der riesige Platz war in warmes Licht getaucht. Die prunkvollen Bürgerhäuser und Palazzi, die den Platz umschlossen, waren orange-gelb angestrahlt, in den beleuchteten Fenstern standen Menschen und prosteten sich mit Champagner zu.
Bocellis mächtige Stimme erfüllte den Platz, er schien vollkommen in sich und seine Musik versunken, begleitet von dem Summen der Menge, das seinen Gesang wie ein gregorianischer Chor untermalte.
Elsa liebte Musik. Sie war das Pendant zu ihrer anderen Leidenschaft, der Mathematik. Wenn sie konnte,
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