Hexenkind
Vielleicht hatte sie gerade ihren Verstand verloren. Denn dieser Mann ging mit ihr durch das nächtliche Siena zu seiner Wohnung.
Die Nachtluft war kühl, doch als Elsa die Wohnung betrat, schlug ihr eine beinah unerträgliche Schwüle entgegen. Sie schnappte regelrecht nach Luft und öffnete einen Knopf ihrer Bluse.
Antonio schaltete die Flurbeleuchtung ein, und es nahm ihr zum zweiten Mal den Atem. Makellose dunkelrote Auslegware durchzog den gesamten Flur, auf dem Teppich schienen weder ein Fussel noch ein Staubkorn jemals die Chance zu haben, liegen bleiben zu dürfen. An der Wand hingen in Reih und Glied Ölbilder der unterschiedlichsten
Stile und Größen, aber alle stellten einen Papst dar. Von Innozenz III. über Honorius IV. und Gregor XI. bis hin zu Alexander VIII. und Pius XII. waren an die zwanzig Bilder zusammengekommen. Ihre illustre Reihe war nur unterbrochen durch kerzenförmige Lampen, die die Portraits beinah feierlich beleuchteten.
Antonios Küche bekam Elsa nicht zu Gesicht. Er führte sie gleich ins Wohn-Schlafzimmer, einen salonähnlichen Raum, mit einem schweren, auf Hochglanz polierten Eichentisch und einem überdimensionalen Bett als Mittelpunkt. Elsa sah die Spiegel an den Wänden, die stuckverzierte Decke, den pompösen Lüster aus Muranoglas. Die schwüle Atmosphäre, der Kitsch und Pomp um sie herum, wenn auch geschmackvoll aufeinander abgestimmt, Strass, Gold und Verzierungen überall, die beherrschende Farbe Rot, feierliche aber gedämpfte Beleuchtung, Kissen, Decken, Gardinen, Teppiche im Überfluss – all das erfüllte Elsa mit Entzücken und Schrecken zugleich.
Der private Palast dieses Mannes machte sie noch kleiner und unscheinbarer, als sie sich ohnehin schon fühlte. Sie befand sich in einer beeindruckenden Welt, die ihr fremd war, und sie überlegte, ob sie nicht lieber verschwinden sollte, solange noch Zeit, solange es noch nicht zu spät war … Doch sie blieb, denn Antonio kam in diesem Moment mit zwei gefüllten Champagnergläsern auf sie zu.
»Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, sagte er unpassenderweise und prostete ihr lächelnd zu. Während er selbst an seinem Champagner nur nippte, leerte Elsa ihr Glas in einem Zug.
Antonio schenkte ihr nach, stellte einen Kerzenleuchter auf den Tisch, zündete die Kerze an und legte leise Musik
auf, die Elsa nicht kannte. Die schweren Brokatvorhänge schlossen sich auf Knopfdruck. Für Elsa war es in diesem Moment kein Vorhang, sondern ein Eisengitter vor einem Kerker, in den sie selbst und ohne Not gegangen war, aber sie versuchte, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.
Eine Weile tranken sie schweigend. »Du hast schöne Augen«, sagte er dann. »Und schöne Hände. Ich mag es, wie du das Glas hältst.«
Elsa nickte nur, und Antonio sprach weiter. »Wie riechen eine Kathedrale und der kalte Stein in einer Krypta?«
»So wie du.« Elsa hatte das zweite Glas geleert und das Gefühl, dass ihr Gesicht glühte. Wahrscheinlich war sie krebsrot.
»Was tue ich hier?«, fragte sie ehrlich. »Ich kenne dich überhaupt nicht, aber ich sitze bei dir zu Hause und trinke Champagner.« Sie schämte sich dafür.
Antonio lächelte. »Es gibt Momente, die darf man nicht verstreichen lassen. Es gibt aberwitzige Gedanken, die man zulassen, und absurde Situationen, die man ausleben muss. Sonst kommt man nicht weiter. Bei Flaute hat es nicht viel Sinn, das Ruder herumzureißen, aber wenn ein starker Wind aufkommt, hat man die Chance, die Richtung zu ändern.«
Er ging zu ihr und zog sie vom Stuhl. Verunsichert stand sie vor ihm und sah ihm in die Augen. Sein Duft war jetzt ungewöhnlich stark. Als er den Champagner holte, hat er noch mal nachgelegt, dachte sie. Nur für mich hat er das getan, weil der Geruch eines Männerklosters meine Knie weich werden lässt.
Er nahm sie in den Arm und küsste ihren Hals.
Dann hob er sie hoch und trug sie zum Bett.
Elsa schloss die Augen, war bereit, alles geschehen zu lassen, was geschehen sollte. Sie schob ihre Angst aus ihren Gedanken und überließ sich ganz diesem wildfremden jungen Mann, der sie langsam entkleidete, so wie man eine kostbare Puppe auszieht, die man zu Weihnachten geschenkt bekommen hat und der man nicht gleich am ersten Tag die Arme abbrechen will.
In dieser Nacht verlor sie nicht nur ihr Herz, sondern auch ihre Unschuld.
Im Morgengrauen stand sie am Fenster und hielt die schweren Brokatvorhänge einen Spalt auseinander. Sie war viel zu aufgeregt, um zu
Weitere Kostenlose Bücher