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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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versäumte
sie keines der Konzerte, die im Sommer auf den Plätzen der Stadt stattfanden.
    Sie stand beinah genau in der Mitte der Piazza und bedauerte Bocelli, der nicht sehen, sondern lediglich spüren und hören konnte, welche Menschenmasse vollkommen hypnotisiert und berauscht war von seiner Musik. Mit so einem Ansturm, derartigen Zuschauermassen hatte sie nicht gerechnet und sich eine Flasche Wasser und ein Sitzkissen mitgebracht, um es sich auf den warmen Steinen gemütlich zu machen und die Musik ihres Lieblingssängers zu genießen. Jetzt stand sie schon seit zweieinhalb Stunden, eingekeilt von Menschen, die sie nicht kannte, die jedoch ebenso fasziniert auf die Bühne starrten wie sie.
    Das Konzert neigte sich dem Ende zu. Bocelli begann zum Schluss seine populärsten Songs zu singen, auf die die Italiener den ganzen Abend gewartet hatten. Als er »con te partirò« anstimmte, gingen die Feuerzeuge an, und ein Meer von Lichtern wogte auf der Piazza. Jetzt hielten es die Fans nicht länger aus, sie hatten lange genug zugehört. Die Menge begann zu singen, nicht mehr verhalten, sondern laut. Bocelli war unter zigtausend Stimmen kaum noch zu hören. Er stand weiterhin regungslos da, sang und lächelte dabei.
    Elsa hatte das Gefühl, gerade einen der schönsten und intensivsten Momente ihres Lebens zu erleben, sie betete insgeheim, dieses Lied, diese Stimmung, diese Nacht würden nie zu Ende gehen. Daher verstand sie es überhaupt nicht, dass eine Frau, die vor ihr stand, sich plötzlich einen Weg durch die Menge bahnte und offensichtlich einer Gasse zustrebte, durch die man den Platz verlassen konnte. Jedenfalls kämpfte sie sich nicht vor in Richtung Bühne.

    Wahrscheinlich will sie so schnell wie möglich zu ihrem Auto, dachte Elsa und fühlte sich gestört.
    Die Lücke, die die Frau gelassen hatte, füllte sich sofort. Elsa genoss es einen Moment, etwas mehr Platz zu haben, aber das taten andere auch, und wenige Minuten später stand man wieder so eng wie zuvor.
    Sie bemerkte es bereits nach wenigen Sekunden. Einen männlichen Duft nach Feuer, mit einer Spur von Weihrauch. Sie assoziierte ein Männerkloster inmitten von blühendem Oleander und hatte das Gefühl, einen Bart riechen zu können, obwohl der Mann, der sich zu ihr umdrehte, weil sie ihm, fasziniert von seinem Geruch, viel zu nahe kam, keinen Bart trug, sondern so glatt rasiert war, als habe es in seinem reinen, zarten Teint noch nie einen Bartstoppel gegeben.
    Erschrocken wich sie ein paar Zentimeter zurück. Er sagte nichts, lächelte nur und drehte sich wieder mit dem Gesicht zur Bühne.
    Elsa hörte nichts mehr von der Musik, von den Zugaben, die Bocelli gab, von dem Jubel des Publikums, sie war wie benommen von dem Geruch dieses Mannes und hypnotisierte seinen Nacken. Sie glaubte seinen Herzschlag hinter den Halsmuskelsträngen zu sehen und versuchte ihn zu zählen. Sie starrte auf seine schwarzen, glänzenden Haare und hörte auf zu denken.
    Dass das Konzert zu Ende war, registrierte sie nicht, der Applaus rauschte in ihren Ohren wie die Brandung des Meeres, die man zwar hört, aber nicht bewusst wahrnimmt. Als sich die Menschenmenge unendlich langsam in Bewegung setzte und die Dichte um sie herum sich zu lockern begann, folgte sie ihm ohne nachzudenken.

    Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sich die Menschenmenge so weit aufgelöst hatte, dass sie den Platz verlassen konnten.
    Vor einem Uhrengeschäft in der Via Rimaldini blieb er plötzlich stehen.
    »Was ist?«, fragte er völlig unvermittelt, und Elsa zuckte zusammen. »Warum läufst du mir hinterher?« Seine Stimme klang nicht verärgert, aber kühl.
    Sie sagte nichts, sie konnte gar nichts sagen. Sie sah ihn nur an und dachte, dass sie noch nie einen so schönen Menschen gesehen hatte.
    »Beim Konzert standst du hinter mir, seit einer halben Stunde folgst du mir auf Schritt und Tritt, selbst im dichtesten Gewühl warst du immer in meiner Nähe … Das muss doch einen Grund haben?«
    »Du riechst so gut«, sagte sie leise und wurde knallrot.
    »Komm«, meinte er und lächelte amüsiert, »lass uns ein Glas Wein trinken gehen.«
    Sie gingen nur zwei Straßen weiter. In der Via Sallustio Bandini versuchten sie es in einer Bar und zwei kleinen Osterien, doch an diesem Abend war es unmöglich, irgendwo auch nur einen einzigen freien Platz zu finden. Daraufhin kaufte er in einer Bar eine Flasche Wein, bat um zwei Pappbecher und ließ sich die Flasche öffnen.
    Vor dem Palazzo Tolomei

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