Hexenkind
unmittelbarer Nähe der Band. Am Nachbartisch saß Enzo mit ein paar Freunden aus dem Dorf, er starrte auf die Tischdecke, aber Sarah war sicher, dass er hörte, was Herbert sagte. Mittlerweile verstand er ziemlich gut Deutsch.
»Sarah, hast du dir mal fünf Minuten Gedanken darüber gemacht, wie dein Leben weitergehen soll? Du bist verheiratet mit einem Mann, der den ganzen Tag Salat putzt und
Nudeln kocht. Deine Tochter ist hyperintelligent und vollkommen unterfordert, so viele Reize, wie sie bräuchte, kannst du ihr in diesem Käsenest niemals bieten, dein Sohn ist ein schwachsinniges Monster und bekommt hier niemals die Hilfe, die er nötig hätte. Deine Schwiegermutter ist ein Drache, der den ganzen Tag in der Gegend herumkommandiert und zur Heiligen Mutter Gottes betet.« Herbert verdrehte die Augen. »Alles springt nach ihrer Pfeife. Sie ist eine verbiesterte und verbitterte Mama, die dir sagt, wo’s langgeht. Hast du dir so was vorgestellt, als du aus Berlin weggegangen bist?«
Sarah schwieg.
»Enzo ist ganz nett«, fuhr Herbert fort, »aber so hilfreich wie ein Gewehr im abgeschlossenen Schrank, zu dem man den Schlüssel verloren hat. Wenn du nicht aufpasst, wirst du irgendwann so resignieren wie er.«
Sarah sah zu Enzo, ob er etwas gehört hatte, aber dessen Miene war unverändert.
»Papa, hör auf!«, flehte Sarah. »Die Leute können uns hören.«
»Das ist mir egal. Wann hab ich Gelegenheit mit dir zu reden? Eigentlich gar nicht. Ich habe nie mit dir telefoniert, das ist richtig. Aber ich hab mir meine Gedanken gemacht. Darum sag ich dir jetzt alles, was mich bedrückt, und dann ist Ende.«
Er kippte ein Glas Wasser hinunter, und seine Hände zitterten derart, dass er beide brauchte, um das Wasser nicht zu verschütten.
»Guck dich doch mal um! Was ist denn hier? Kein Kino, kein Theater, noch nicht mal ein paar Läden. Ein paar Olivenbäume, einige Weinberge, ein schöner Blick! Das ist
nichts, Sarah! Weniger als nichts! Du verkümmerst, Kind! Du bist irgendwann genauso abgestumpft, frustriert und verdummt wie diese ganzen Bauern, die hier rumlaufen und nicht bis drei zählen können.«
Sarah sah, dass Enzo aufblickte. »Schluss jetzt«, sagte sie scharf. »Hör auf damit. Ich will mir das nicht anhören, und heute schon gar nicht. Außerdem ist es völlig zwecklos. Ich lebe hier, und du kannst nichts daran ändern.«
»Natürlich kann ich etwas daran ändern«, echauffierte sich Herbert. »Sonst wäre ich nämlich gar nicht hergekommen. Sonst hätte ich mir den Flug, die Reise und dieses Fest, das mir bis hier steht …«, er zog mit der flachen Hand eine Linie oberhalb seines Scheitels, »erspart. Das kannst du mir glauben. Ich bin hergekommen, um mich zu vergewissern, ob es wirklich so ist, wie ich gedacht habe. Und um mit meiner Tochter zu reden.«
»Und? Ist es so, wie du gedacht hast?«
»Nein. Denn es ist schlimmer. Viel schlimmer.« Seine Augen funkelten wütend.
»Lass uns morgen weiterreden, Papa. Bitte. Nicht heute. Nicht auf meinem Fest.«
»Doch!« Herbert versuchte aufzuspringen, sackte aber sofort wieder zusammen. Seine kranke Blässe war einer lila-rötlichen Gesichtsfarbe gewichen. Und er hatte plötzlich die Kraft, wesentlich lauter zu reden als vorher.
»Du verblödest hier in diesem Kaff, in dem es drei Häuser gibt und eine Kirche, in dem der Wind durch die menschenleeren Gassen fegt, und die Gesichter, die dich hinter den Fenstern anstarren, sehen alle gleich aus, weil sie durch Jahrhunderte währende Inzucht irgendwie alle miteinander verwandt sind.«
»Sei jetzt still!«, zischte Sarah. »Halt endlich den Mund. Oder willst du dich und mich vor allen Leuten hier unmöglich machen?«
»Was gehen mich die Leute an?« Er lachte verbittert.
»Dich vielleicht nicht, aber mich gehen die Leute was an. Ich lebe hier, ich muss jeden Tag mit ihnen auskommen, du nicht!«
Sarah stand auf und wollte gehen, aber Herbert war schneller, hielt sie mit eisernem Griff fest und zog sie zurück auf den Stuhl.
»Ich habe nicht deine Ausbildung finanziert«, stieß Herbert zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor, »und ich habe nicht alle meine Hoffnungen in dich gesetzt, damit du jetzt irgendwo versteckt in den toskanischen Bergen in einem uralten Haus mit schiefen Wänden und von Würmern zerfressenen Holzbalken lebst, in dem es jeden Tag nach Knoblauch und Zwiebeln stinkt und in dem es kein einziges Buch gibt! Ich habe meine Tochter nicht großgezogen und jahrelang
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