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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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setzten sie sich auf eine Treppe und begannen, langsam den Wein zu trinken.
    »Wonach rieche ich?«, fragte er.
    »Nach Kathedrale und Weihrauch, Krypta und kaltem Stein, blühendem Oleander, Vanille und sonniger Erde.«
    So etwas hatte ihm noch niemand gesagt. Für einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache. Er sah sich dieses
merkwürdige Mädchen genauer an. Sie hatte ungewöhnlich helle Haut, einen blassen Teint, viel zu zart und durchsichtig für eine Italienerin. Aber ihre Haare waren dunkel, glänzend und absolut glatt. Er mochte glattes Haar, das fließend wie Wasser auf die Schultern fiel. Siebzehn, achtzehn war sie vielleicht. Älter schätzte er sie nicht. Ihre Augen waren braun und gaben dem verletzlichen Gesicht eine ungewöhnliche Tiefe.
    »Wie heißt du?«, fragte er.
    »Elisabetta. Elisabetta Simonetti.« Sie erschrak selbst in dem Augenblick, als sie diesen Namen ausgesprochen hatte. Weil es so schnell ging und weil es so spontan und so richtig war. Sie hatte ihren Namen »Elsa« immer gehasst, regelrecht abstoßend gefunden. Und Elisabetta war ihrem Namen so ähnlich, so nah und so wunderschön. Fast ärgerte sie sich in dem Moment, dass sie noch nicht viel früher darauf gekommen war.
    »Wohnst du in Siena?«, fragte er, und Elsa hörte auf, über Elisabetta nachzudenken.
    »Nein. In Montefiera. Das ist ein kleiner Ort, circa eine halbe Stunde von hier.«
    Auf Sienas Straßen herrschte jetzt, kurz vor Mitternacht, reger Betrieb. Immer mehr Paare, Gruppen und einzelne Nachtschwärmer ließen sich auf der Treppe nieder, fast alle hatten etwas zu trinken dabei. Ein Student sang Zucchero-Lieder zur Gitarre.
    »Wie kommst du nach Hause?«
    »Mit dem Auto. Ich habe vor zwei Monaten meinen Führerschein gemacht.«
    Achtzehn musste sie also mindestens sein.
    »Komm«, sagte er, stand auf und nahm ihre Hand. »Wir
gehen zu mir. Ich wohne ganz in der Nähe. Hier ist es mir zu voll, zu laut und zu hektisch.«
    Elsas Herz schlug bis zum Hals. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht. Sie wusste nur, dass er einen Duft benutzte, der ihre Phantasie anregte, und dass er atemberaubend aussah. Mehr nicht. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Es war eine gefährliche Situation, das war ihr klar, aber sie spürte auch, dass sie dabei war, sich in einen Mann zu verlieben, dessen Bild bisher nur in ihren Träumen existierte, und dieses Gefühl war stärker.
    »Okay«, sagte sie und: »Wie heißt du eigentlich?«
    »Antonio.«
    In der Kapelle von Montefiera gab es eine Figur, die den heiligen Antonius von Padua darstellte. Er stand in einem langen Gewand, aber barfüßig auf einem Fels, in der einen Hand eine Bibel und in der anderen eine Lilie. Der heilige Antonius galt als Helfer bei verlorenen Sachen. Immer wenn Elsa irgendetwas suchte, was ständig vorkam, ging sie in die Kirche und betete zum heiligen Antonius, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Don Matteo, dem Pfarrer von Montefiera hatte. Das verwirrte sie. Sie wollte nicht zu Don Matteo beten, sie wollte nicht, dass er darüber informiert war, dass sie bereits seit zwei Wochen ihren Hausschlüssel suchte und ihre Heimkehr immer so organisierte, dass irgendjemand zu Hause war, der die Tür öffnete. Bisher wusste noch niemand, dass ihr Schlüssel weg war, der heilige Antonius war ihre letzte Rettung. Schließlich fragte sie – völlig entnervt – Edi. Edi grinste nur und ging mit ihr in den Wald. Sie waren zu Fuß fast eine Stunde unterwegs, als Edi sich plötzlich hinkniete, unter einer silbernen Zeder grub und den Schlüssel in der Hand hatte.

    Es war seit einigen Monaten seine Lieblingsbeschäftigung, alle möglichen Haushaltsgegenstände im Umkreis von etlichen Kilometern im Wald zu vergraben. Meist fiel es niemandem auf, dass etwas fehlte, weil es sich nur um Flaschenöffner, Zahnstocher, Küchenmesser, Sicherheitsnadeln, Scheren, Kugelschreiber, Gläser, ein leeres Tintenfass, eine kleine Tonfigur, einen alten Kalender oder andere nutzlose Kleinigkeiten handelte, die niemand wirklich vermisste. Es war Elsa nie in den Sinn gekommen, dass Edi ihren Schlüssel genommen haben könnte, für sie war es eine seiner Spielereien, einer seiner wechselnden Spleens, wenn er in den Wald lief, um im Boden zu wühlen und zu graben wie ein Hund.
    Die Tatsache, dass Edi den Schlüssel wieder ausbuddelte und sie ihn endlich zurückhatte, ohne dass das Malheur von ihren Eltern bemerkt worden war, schrieb sie allein der Hilfe des heiligen Antonius zu.
    Antonio.

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