Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
die Hoffnung der Drei, sie beginne zu genesen.
Daran hielten sie auch noch fest, als ihnen der Arzt gegen Abend mit ernster Miene empfahl, sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben, es handle sich womöglich nur um ein kurzes Aufflackern ihres Lebenswillens.
Wie nahe doch Hoffnung und Selbstbetrug oft beieinander liegen. Immer wieder reichen sie sich die Hände, verschmelzen miteinander, weil die Menschen es so wünschen, weil sie schmerzliche Tatsachen, die sie bisweilen deutlich vor Augen haben, nicht wahrhaben wollen. Sicher, es gibt Momente von vermeintlich berechtigter Hoffnung, wie Madame Rodders kurzes Aufleben, doch Lucia war nicht die einzige, die auch in diesen wenigen Stunden das unaufhaltsame Vergehen ihres in Wahrheit herzgeschwächten Körpers erkannt hatte. Niemand aber hatte die Kraft aufgebracht, sich diese Tatsache einzugestehen. Meister Rodder am wenigsten.
"Kein Requiem, Peter, bitte kein Requiem", waren dann ihre letzten Worte an ihn gewesen. Da er außerstande war, ihr dieses Versprechen zu geben, hatte sie sich gleich drauf an Lucia gewandt: "Keine Trauerveranstaltung. Und trage auch kein Schwarz, ma Chère."
"Oui. Ich liebe dich, Maman, und alle guten Wünsche für deine Reise", hatte sie ihr zugeflüstert, was ihre Maman mit einem leisen Lächeln beantwortet hatte.
Heute begleiteten die engsten Familienmitglieder den Sarg mit ihrem abgestreiften Erdenkörper zum Friedhof, während ihre Seele bereits Astralgefilde durchstreifte.
Die erste Zeit trug Lucia der Leute wegen doch Schwarz. Selbst während der Weihnachtstage und auch noch an Silvester.
Erst danach begann sie, ihre Garderobe mit ein wenig weiß aufzulockern. Denn Weiß dürfe man anstelle von Schwarz tragen, hatte sie in der Klosterschule gelernt, und damit kam sie dem Wunsch ihrer Mutter nachgerade entgegen.
Auch Meister Rodder hatte die Bitte seiner verstorbenen Gemahlin, keine Trauerfeier zu arrangieren, respektiert. Er hatte allen Verwandten beim Versenden der Todesnachricht mitgeteilt, sie habe ein Requiem ausdrücklich abgelehnt.
Inzwischen hielt der Hartung die Alpen in seiner eisigen Faust.
Was Lucia momentan nicht berühren konnte, denn sie saß in ihrer warm beheizten Guten Stube. Sie brauchte eine Weile für sich alleine. Während der letzten Tage war ihr immer häufiger in Erinnerung geraten, wie sonderbar sich ihre Mutter seit Alphonses Hinscheiden benommen hatte, und auf dem Sterbebett hatte sie ihn bei ihr auffallend oft erwähnt. All dies war Lucia unablässig durch den Kopf gegangen, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, wenn Gedanken sie derart bedrängen, kommt sie nie umhin, ihnen nachzugehen. Dazu saß sie nun, mit Blick zum Fenster entspannt im Sessel und träumte sich hinaus in den Schneeflockentanz, den sie durch die Butzenscheiben wie durch einen Schleier wahrnahm.
Bald wurde aus dem Weiß der Flocken ein Bunt, das sich vor Lucias geistigem Auge allmählich zu einem Bild gestaltete, sie wusste, ihre Sinne waren weit zurück in die Vergangenheit geglitten.
Nun erkannte sie einen Park, den Schlosspark von Belleville, und ihr Blick fiel bald auf zwei kleine Kinder, die übermütig darin herumtollten - es waren ihre Mutter, die Silke, und Alphonse. Das Bild wandelte sich, und sie sah in schneller Folge, wie die beiden Kinder gemeinsam von verschiedenen Hauslehrern in mehreren Fächern unterrichtet wurden, oft vormittags und nachmittags. Sie mussten lernen, lernen und lernen. Lucia verstand, dass sie deshalb jede freie Minute nutzten, um sich draußen im Park auszutoben.
Schließlich nahte ihre Trennung, denn Silkes Eltern bereiteten sich auf ihren Umzug nach Meran vor. Wenige Tage vor ihrer Abreise sah Lucia dann Silke und Alphonse, sie ein wenig größer als er, dicht nebeneinander in einem Kellergewölbe sitzen. Silke hielt ihre Hände vors Gesicht und weinte bittere Tränen ob ihres bevorstehenden Abschieds, und er hielt sie tröstend im Arm, wobei er ihre Hände küsste und sie daran erinnerte, dass sie sich oft besuchen werden. Das half ihr, ihre Tränen versiegten, und in beider kindlichen Herzen leuchtete eine Glut warmer Zuneigung.
Nun trat eine Pause ein, alles war für Lucia in Nebel gehüllt. Dennoch wusste sie, dass Silke nun in Meran heranwuchs, erfüllt von dem Wunsch, Ärztin zu werden, weshalb ihr ohnedies schon reichhaltiges Lehrprogramm noch um medizinischen Unterricht erweitert wurde.
Die Bilder formierten sich wieder, und Lucia beobachtete, wie sich Silkes und Alphonses Familien häufig
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