Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
und anschließend band sie sich einen Männerschal um ihren jetzt so nackt wirkenden Hals. So gefiel sie sich etwas besser, und als Alphonse ihr noch beteuerte, durch diesen Haarschnitt werde ihr jetzt jeder den Jüngling abnehmen, war sie halbwegs versöhnt.
Während Alphonse noch etliche Notwendigkeiten für Lucia erledigte, hier in Südtirol wie auch in Italien, übte sie das Reiten im Herrensattel. Was ihr Geduld abforderte, da sich wegen des breitbeinigen Sitzens ihre nachgewachsene Haut in der Schamgegend gegen den harten Sattel auflehnte. Zunächst konnte sie auf dem Reitplatz nur minimale Strecken zurücklegen, die sie nach und nach länger ausdehnte, bis sie schließlich sicher war, einen ganzen Tagesritt zu meistern.
Über alledem waren die Wintermonde vergangen, und als die ersten Frühlingsknospen den Bäumen und Sträuchern einen Grünschimmer verliehen, erklärte Alphonse Lucia, sie gebe nun in jeder Hinsicht, selbst im Sattel, das Bild eines jungen Mannes ab. Dann kaufte er ihr den Wallach, auf dem sie das Herrenreiten gelernt hatte, ihren Oskar. Und bevor sie sich für den Ritt nach Italien rüsteten, war es Lucia eine Genugtuung, an ihre Eltern einen gesalzenen Abschiedsbrief zu verfassen. Darin zählte sie ihnen alle Gründe auf, die sie zum Verlassen des Bellwillhügels bewogen hatten. Auch konnte sie nicht widerstehen, ihrem Vater darin anzukündigen, sie werde sich ihr Erbe nicht nehmen lassen, trotzdem sie wusste, dass er daraufhin noch rabiater um sein vermeintliches Recht kämpfen wird.
Nachdem sie diesen sechs Seiten langen Brief bei der Poststation aufgegeben hatte, fühlte sie sich bedeutend leichter. Jetzt konnte sie die Reise in ihre neue Zukunft antreten.
Alles war alsdann überraschend gut verlaufen, sann Lucia, die sich nun Lukas de Belleville nannte, und fand sich wieder in ihr Hier und Heute ein. Inzwischen überzeugte sie in der da Vinci- Bottega längst als Lukas, jedenfalls war ihr noch nie ein skeptischer Blick aufgefallen. Aber Künstler schauen ohnedies mit anderen Augen, sie sind Schöngeister, die mehr auf Harmonie und Seelenwerte achten als auf äußere Aufmachung. "Lucia, du wirst aufleben unter Künstlern", hatte Alphonse ihr auf dem Weg nach Italien prophezeit, "sie sind ein Menschenschlag für sich, völlig unkonventionell, sensibel und herzlich. Und, was man anderswo vergebens sucht, unter echten Künstlern herrscht kein Neid, im Gegenteil, einer erfreut sich an dem Können des anderen. Du wirst es erleben."
Und sie erlebte es. Diese Aussage traf auf jeden in der hiesigen Bottega zu, selbst schon auf Carlo. Alles, was Lucias Familie mehr und mehr abhanden gekommen war, fand sie hier: Herzlichkeit, Geborgenheit, gegenseitige Achtung und darüber hinaus diese gemeinsame Freude am künstlerischen Schaffen. Das war ihre Welt, die sie nie wieder verlassen will.
Deshalb durfte sie ihr weiblicher Malstil jetzt nicht enttarnen. Warum auch hatte ihr der Maestro ausgerechnet rosa Rosen hingestellt? Sie konnte sich die Antwort selbst erteilen - damit ihre Malerei die Härte verliert. Markant si, hart no, hatte ihr der junge Künstler Giovanni häufig erklärt, doch dieser Unterschied war schwer für sie nachzuvollziehen. Wahrscheinlich ist das Markante eine Eigenart, die Frauen abgeht, ich sollte es mir von Alphonse erklären lassen, nahm sie sich vor. Die Gelegenheit dazu wird sich bald ergeben, Alphonse hatte seinen Besuch angekündigt und wird zwei Wochen in Mailand verbringen. Bis dahin werde ich mich nicht mehr an die Staffelei setzen, beschloss Lucia jetzt, ich werde dem Maestro sagen, ich könne mich momentan nicht aufs Malen konzentrieren, für dergleichen hat er stets Verständnis.
Kapitel 3 • Noch immer Herbst 1490
Selbstbildnis des alten Leonardo da Vinci
Lucia durfte eine Malpause einlegen. Während ihrer sonstigen Malstunden übte sie sich jetzt im Freilichtatelier im Umgang mit Hammer und Meißel.
Oder sie beschäftigte sich mit dem zehnjährigen Salai, des Maestros künftigem Mündel. Salai war ein aufgeweckter hellblonder Bub, bei dem allerdings dann und wann ein leicht verschlagener Zug zu Tage trat. Allmorgendlich wurde er von der Hausmaid seiner Pflegeeltern in die Bottega gebracht, wo er den anderen beim Malen zuschaute, sich an einem extra für ihn neben des Maestros Arbeitsplatz aufgestellten Kindertisch mit niedrigem Hocker selbst darin übte oder Unsinn trieb, und alle hatten ihren Spaß an ihm.
Lucia erinnerte Salai an ihren Bruder Justus, der
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