Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
den Unterschied zwischen markant und hart. Wer ohne Zwang kraftvoll ans Werk gehe, male automatisch markant, erklärte er ihr, strenge man sich dagegen an, dann erzeuge man Härte. Das leuchtete ihr ein - genau diesen Fehler hatte sie begangen, sie hatte sich stets angestrengt, um ihre mangelnde männliche Kraft zu kaschieren. Wie aber sollte sie das künftig ändern? Diese Frage konnte ihr Alphonse nicht beantworten.
"Ich habe in deinem Blick ein verdächtiges Flimmern entdeckt", neckte Alphonse Lucia, als sie ihn am letzten Tag seines Besuchs zu seiner abfahrbereiten Kutsche begleitete, "und zwar jedesmal, wenn sich euer Maestro in der Nähe befand."
"Was willst du damit sagen?"
"Och, nichts weiter."
"Grins nicht so, sondern sag schon", verlangte sie, worauf er ihr ins Ohr flüsterte:
"Das kann dir nur dein eigenes Herz beantworten."
"Jetzt aber rauf mit dir auf den Kutschbock!", gebot sie ihm lachend, was er auch schleunigst tat.
Sie lachten beide, als er abfuhr und freuten sich, dass ihr Abschied diesmal so heiter ausgefallen war.
Nachdem Alphonse dann von der Allee abgebogen war, wollte Lucia zurück ins Atelier kehren, verhielt jedoch ihren Schritt und dachte kurz über Alphonses scherzhaft dahingesagte Bemerkung nach. Und tatsächlich, als sie sich den Maestro vorstellte, schlug momentan ihr Herz rascher. Oh, oh, dachte sie, du verrücktes Herz, bist drauf und dran, mir einen Streich zu spielen!
Fortan konnte es sich Lucia nicht mehr ausreden, sie hatte sich in ihren Maestro verliebt. So musste sie nun in ihrer ohnehin oft so schwierigen Jünglingsrolle auch noch damit fertig werden, und es fiel ihr zunehmend schwerer, sich ihre Verliebtheit nicht anmerken zu lassen.
Während Lucia die zwei letzten Wochen überwiegend mit Alphonse unterwegs gewesen war, hatte der Maestro in seinem Privatatelier bereits die Trennwand mit einer Türöffnung zu dem künftigen Farbherstellungsraum mauern lassen. Außerdem hatte er Lucias Geräteskizzen, an denen er allerlei Verbesserungen vorgenommen hatte, mit Tusche auf Pergament übertragen und diese Zeichnungen zum Erstellen jener Gräte wie auch eines eisernen Ofens zu einer Schmiede gebracht.
Zeit für diese Beschäftigungen konnte er seit kurzem aufbringen, da sein Entwurf für die neue Domkuppel abgelehnt worden war, weshalb er sich nun häufiger in der Bottega aufhielt. Er hatte diesem verloren gegangenen Auftrag nicht nachgetrauert, sondern lediglich geäußert: "Das zweite Mal, dass Bramantes und meine Vorschläge für die Renovierung dieses Doms abgelehnt worden sind. Aber was kümmert's uns, Kirchenfürsten gehen eben von anderen Kriterien aus als wir Baumeister."
Carlo, dem die Architektur so sehr am Herzen lag, war darüber umso betroffener gewesen, hatte sich inzwischen jedoch gefangen, da der Maestro ihn die Tür, die in die Trennwand eingebaut werden soll, entwerfen ließ. Außerdem darf er noch zwei Steintreppen entwerfen, die die alten Holzstufen von den beiden Hinterausgängen zum Hofgarten hinunter ersetzen sollen. Die eine Treppe führte von der Korridortür aus hinab und die andere von der Terrassentür, die derzeit noch in Maestro Leonardos Privatatelier lag, künftig jedoch dem neuen Farbherstellungsraum angehören wird. Für die neu gemauerte Trennwand hatte sich Carlo eine Rundbogentür aus Palisander, passend zu Maestro Leonardos Besucherecke, ausgedacht, und zum Hofgarten sollen mal zwei sich schwungvoll nach unten verbreiternde Fünfstufentreppen hinunterführen.
"Diese beiden Treppen werden kleine Kunstwerke", hatte der Maestro ihn dafür gelobt.
Jener Teil des Palazzos war mittlerweile zum Bauplatz geworden, auf dem sich der Maestro und Carlo sichtlich wohl fühlten. Dennoch feuerten sie die Handwerker zu flinker Arbeit an, denn es war bereits herbstlich kühl.
Die drei Gastkünstler erschienen jetzt wegen des Baulärms immer seltener in der Bottega, Bernardino und Giovanni dagegen malten unverdrossen, links neben der Tür zum Korridor, an ihrem gemeinsamen Gemälde, Bernardino in seiner behäbigen und Giovanni in seiner auffallend flinken Art. Dieses Werk war zwei Kopf höher als Giovanni und fast doppelt so breit wie hoch. Es stellte Maria und Elisabeth mit ihren beiden Knaben dar, die vertraut beieinander in einem Tempelgarten saßen, und im Hintergrund kniete ein Engel. Lucia konnte erkennen, an welchen Stellen Maestro Leonardos Hand mit am Werk gewesen war. Er hatte der Madonna ein überirdisches Lächeln verliehen, dem Jesusknaben einen
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