Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Turniers werden?
"Auuu!", entfuhr es ihr jetzt - der neben ihr Stehende hatte ihr auf den nackten großen Zehen gestapft. Verdammt, tat das weh! Am liebsten wollte sie den Kerl zurücktreten. Wie dann aber der erste Schmerz nachließ, rammte sie ihm wütend ihren Ellbogen in die Flanke. So! Der reagierte nicht darauf, hatte es wahrscheinlich nicht mal gemerkt, ihr aber hatte es Erleichterung verschafft. Sie hatte ja als Lukas schon manches durchstehen müssen, doch der hiesigen Situation war sie nicht gewachsen. Deshalb beschloss sie nach einigen weiteren Attacken, bei der nächstmöglichen Situation das Feld zu räumen.
Diese Gelegenheit ergab sich, als die achtundvierzig Helden vorbeigezogen waren, und nach ihnen wurden die Knappen erwartet, die längst nicht so interessant waren wie ihre ritterlichen Herren. Deshalb beruhigten sich die Zuschauer jetzt ein wenig.
"Ich muss nach Hause", gab sie Carlo mit ihrer inzwischen heiser geschrienen Stimme Bescheid, was er für einen Witz hielt, doch sie sagte ihm, dass ihr jemand auf ihren nackten Zehen gestampft hatte.
"Das ist doch kein Grund", konnte er darüber nur lachen, und da ihr kein anderer Vorwand einfiel, gebrauchte sie die simpelste aller Ausreden:
"No, Carlo, ich muss austreten."
"Achje, dann findest du hier nachher womöglich keinen Platz mehr."
"Mal sehen", gab sie zurück und trat ihre Flucht an.
Schritt für Schritt schlängelte sie sich durch die Menschenmenge zum Tribünenanfang, dort die Stufen hinab, und von da an humpelte sie vor zum Schlosshof. Der war völlig menschenleer, weshalb sie sich für einige Minuten auf einen verlassen dastehenden Gartenstuhl setzte, um ihren Zehen zu begutachten, der mit feuerroter Schwellung gegen die erlittene Gewalttat rebellierte. Das hatte sie nun von ihren Sandalen, mit denen sie ihre Füße hatte schonen wollen. Als plage sie dafür Schuldgefühle, redete sie ihrem malträtierten Fußglied zu: "In ein, zwei Tagen wirst du alles vergessen haben."
Dann ließ sie sich von einer Droschke nach Hause fahren.
Am Frühstückstisch des kommenden Morgens gab Leonardo bekannt, dass sich die Bottega für die nächsten Tage auf etwa siebzig Gäste des Schlossfestes vorbereiten muss, die ihm alle ihre Besuche angekündigt hätten, um sich die hiesigen Werke zu betrachten. Übernachten würden sie natürlich im Schloss.
"Da gibt's ordentlich was zu tun", kündete Bernardino an, "für jeden einzelnen hier. Ihr zwei Garzoni nicht ausgenommen."
"Mit Freuden", strahlte Carlo über diese Aussicht und wollte wissen, ob auch Salai an diesem Empfang teilnehmen werde.
"Leider no", bedauerte Leonardo, "er ist mit seinen Pflegeeltern verreist. Und nun sei so freundlich und hole Charlotta und Gina herbei, sie müssen schließlich auch instruiert werden."
"Va bene."
Als die beiden dann ebenfalls an dem langen Terrassentisch saßen, unterrichtete Leonardo sie von den zu erwartenden Gästen, und anschließend wurden die Aufgabenbereiche eingeteilt.
Bereits am Nachmittag trafen die ersten Gäste ein. Allerdings insgesamt nur acht, was den Bottegaangehörigen ganz angenehm war, da sie sich noch mitten in den Vorbereitungen befanden.
Dafür beehrten anderntags umso mehr Besucher die Bottega, sodass die Gastgeber alle Hände voll zu tun hatten. Die meisten Besucher waren mit Leonardo bekannt, einige sogar mit ihm befreundet, und die restlichen freuten sich darauf, ihn endlich persönlich kennen zu lernen. Natürlich lag auch jedem daran, ausgiebig seine Bottega mit ihren vielen erlesenen Kunstwerken zu besichtigen.
Lucia hielt sich weit möglichst im Hintergrund auf, um mit ihren mangelnden Fähigkeiten als Gastgeber nicht anzuecken. Carlo dagegen war in seinem Element. Vor der Blockhausveranda waren mehrere Gartentische und -stühle aufgestellt, wo Carlo und Pietro, der Gärtner, jetzt die Besucher mit Getränken und vielerlei von Gina hergerichteten Delikatessen verwöhnten. Die Gäste konnten wahrlich zufrieden sein.
Als Lucia gegen Abend die letzten dort noch weilenden Herren von weitem etwas genauer ins Auge fasste, fragte sie sich, ob wohl vorgestern bei dem Einzug der Ritter auch in ihnen solch ein Kampffeuer entfacht war. Konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen. Aber bei Carlo hatte sie es vordem ja auch nicht gedacht. Leonardo hatte ihr kurz vor Ostern erläutert, Künstler seien von einem starken Venuseinfluss begünstigt, daher ihr Schönheitssinn. Und ihr mitunter zu hoher Anteil an Weiblichkeit, hatte sie gedanklich hinzugefügt.
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