Hexenkuss
er und blickte herzlos auf den geneigten Kopf und die wilde Mähne glänzender Locken hinab.
Dann hob sie den Kopf und sagte: »Sie wollen, dass ich meine Nichte zu uns hole. Sie ist jetzt eine Waise. Sie hat sonst niemanden.«
»Deine Nichte«, wiederholte Michael langsam.
Sie nickte. »Mein Bruder hat eine Tochter. Holly.«
Er ließ sich nicht anmerken, welchen Schock ihm diese Neuigkeit versetzte. Seine Stimme blieb ruhig, seine Miene drückte nichts als mitfühlende Gelassenheit aus.
»Ich wusste gar nicht, dass es noch weitere Frauen in deiner Familie gibt.«
Sie schluchzte erneut. »Sie ist keine Frau. Sie ist so alt wie meine Zwillinge.«
Es gibt also noch eine Cathers - noch eine weibliche Cahors. Vielleicht ist sie diejenige, die die magischen Kräfte der Familie geerbt hat. Und wenn ich sie mit unserem Haus verbinde, könnte das Schwarze Feuer doch noch für Michael Deveraux lodern ...
»Dann wird sie also ab jetzt bei euch wohnen«, sagte er langsam.
Sie sah ihn zutiefst bekümmert an und entgegnete: »Ich soll hinfliegen und sie holen. Sie hat sonst niemanden.«
»Dann solltest du zu ihr gehen. Sie gehört schließlich zur Familie.«
Ihr Seufzen war verzweifelt, entschlossen und ergeben, alles auf einmal. »Die Beerdigung ist übermorgen. Ich fliege gleich morgen früh.« Sie hob das tränennasse Gesicht und sah ihm in die Augen. Ihre Lippen waren feucht, ihr Körper presste sich an seinen.
»Ich bin so froh, dass du da bist«, flüsterte sie. »Ich könnte heute Nacht nicht allein sein.«
»Ma chere«, sagte er und strich ihr feuchte Strähnen aus dem Gesicht. »Mach dir keine Gedanken. Ich kümmere mich schon um dich.«
Und in diesem Augenblick war er sehr froh, dass er seine Geliebte nicht ermordet hatte.
Noch nicht.
Drei
Blutmond
Ob König oder heiliger Mann
Sein Fleisch verspeisen wir zum Met
Wir baden in Blut und schnitzen Knochen
Und träumen von gesäter Furcht
Gesegnet ist der helle Mond
Der uns zur Jagd bald wieder leuchtet
Wenn sich in unserer Schlinge fängt
Des größten Feindes einziger Erbe
Canyon Rock Hospital, Arizona
Holly trieb auf sanften Wellen irgendwo zwischen Wachen und Träumen. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, spürte sie den hellen Sonnenschein durch die Augenlider und lächelte über die angenehme Wärme auf ihrem Gesicht. Bald würde ihre Mutter sie ermahnen, Sonnenschutz aufzutragen, und Holly würde es tun, ihr zuliebe. Insgeheim gefiel ihr gebräunte Haut, und wenn sie im Stall war, sparte sie sich die Sonnencreme. Sie redete sich ein, dass ihr Cowboyhut Schutz genug sei, aber das stimmte natürlich nicht.
Ein Schatten trat zwischen sie und die nährende Wärme der Sonne. Sie runzelte leicht die Brauen, entspannte sich aber wieder, als eine große, vertraute Hand sich um ihre schloss und sie drückte. Sie versuchte »Hallo, Daddy« zu sagen, aber in ihrem genüsslich faulen Zustand war ihr das zu mühsam. Also lächelte sie erneut, um ihn wissen zu lassen, dass er willkommen war, und ließ sich weiter treiben, ihre Hand in seiner, die Gedanken voller Liebe zu ihrem Vater und voll Erinnerungen an all die Jahre, die sie zu ihm aufgeblickt und ihn angebetet hatte. Ihre Mom hatte immer gesagt, Holly sei ein Papakind, doch das hatte ihr nichts ausgemacht. Elise Cathers selbst hatte eine albtraumhafte Kindheit erlebt, und sie hatte Holly erklärt, eines der wichtigsten Geschenke, das sie ihrer Tochter machen könne, sei eine liebevolle, gesunde, von Respekt geprägte Beziehung zu ihrem Vater.
»Den eigenen Vater nicht lieben zu können, ihn nicht einmal in der Nähe haben zu wollen«, hatte ihre Mom gesagt, »ist mit das Schlimmste für ein junges Mädchen. Ich bin froh, dass du deinen Vater so gern hast.« Dann hatte sie immer ein wenig traurig gelächelt. »Es ist schon so, wie dieser Schriftsteller sagt - mit jedem Kind wird die Welt neu geboren, und man bekommt eine weitere Chance, es richtig zu machen.«
Es amüsierte Holly, dass ihre Mutter Elise diese Worte zwar immer wieder zitierte, sich aber nicht an den Namen des Schriftstellers erinnern konnte, von dem sie stammten, oder wo sie sie gelesen hatte. Jedenfalls verstand Holly, was sie ihr damit sagen wollte, und sie war ungeheuer stolz auf ihre Mom: Was auch immer ihr als kleines Kind passiert sein mochte, sie hatte sich davon nicht unterkriegen lassen. Sie war eine sehr gute und mitfühlende Ärztin und eine fabelhafte Mutter. Das Einzige, was sie offenbar nicht so gut konnte, war
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