Hexenkuss
Tochter einer Notfallchirurgin war Holly nicht zimperlich. Aber das war Daddy. Mein Daddy. Ich will meinen Daddy...
Holly begann zu weinen. Sie schloss die Augen und heulte wie ein sterbendes Tier, während sie sich vor und zurück wiegte. Säure füllte ihren Mund, ihr Magen brannte. Sie beugte sich vor, würgte und zog eine dünne Krankenhausdecke an sich, als wollte sie ihr Krankenhaus-Nachthemd schützen. Schweres, tiefes, rollendes Schluchzen brach aus ihr hervor, brach sie entzwei. Sie konnte nichts tun außer weinen.
Jemand sprach mit fester Stimme und verkündete: »Ist schon gut, Holly. So ist es richtig, Schatz. Nur heraus damit.«
Sie wusste nicht, wie lange sie weinte, bis dieselbe Stimme zu einer anderen Person im Raum sagte: »Himmel. Geben wir ihr noch etwas.«
Ein weiterer scharfer Stich, und als sie gerade in einen benommenen Schlaf hinabsank, hörte sie ein Flattern wie von den Flügeln eines Raubvogels. Er stieß herab und wirbelte und stürzte mit ihr in den schwarzen Tunnel...
... und dann merkte sie, dass es ihr eigenes Herz war, das flatterte wie ein Kolibri und dann langsamer wurde... langsamer...
... und eine Hand in einem schweren Handschuh ballte sich zur Faust, und der Vogel landete darauf.
Holly wachte wieder auf, erschöpft und benommen. Die Frau, die behauptete, ihre Tante zu sein, konnte nicht aufhören zu weinen. Ihr Make-up war übers ganze Gesicht verschmiert. Sie putzte sich mit einem Taschentuch aus der Schachtel auf dem Rolltisch neben dem Bett die Nase und sagte: »... zu deinem Vormund bestimmt, im Testament deines Vaters.«
Holly konnte sich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Daddy hat mir nie erzählt, dass er überhaupt eine Schwester hatte.
»Äh, und die Schule wird dir sicher gefallen.« Die Frau schluckte schwer. Ihr Blick schoss nach links und rechts, als wäre sie lieber woanders. Sie trug eine Menge Schmuck, und ihre Ohrringe fingen das Licht ein, wenn sie sich bewegte. »Meinen Mädchen gefällt es da sehr gut.«
Holly kniff die geschwollenen Augen zusammen und versuchte ihr zu folgen. »Schule?«
»Du kommst ins Abschlussjahr, oder?«, fragte die Frau.
Vor Jahren, als Janna Perrys Bruder gestorben war, war Janna beinahe so etwas wie ein Star geworden. Alle hatten sich in der Schule um die elfjährige Janna gedrängt, sie behandelt wie ein rohes Ei und heimlich mit zusammengesteckten Köpfen über das arme Mädchen geflüstert, das arme kleine Ding, das Kind, das allein zurückgeblieben war. Janna war vorher ein ziemliches Ekel gewesen, und jetzt war sie eine Heilige. Sie verhielt sich sogar wie eine Heilige. Sie war gut. Sie war lieb. Sie war sehr, sehr traurig.
Traurige Kinder bekommen, was sie wollen.
Kinder, die vorher gemein zu ihr gewesen waren, brachten ihr kleine Geschenke mit. Kinder, zu denen sie gemein gewesen war, luden sie zu sich nach Hause ein, zum Essen und über Nacht. Sie musste tonnenweise Hausaufgaben nicht machen, und obwohl sie oft in der Schule fehlte, stand sie am Ende des Schuljahres zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Bestenliste. Holly, damals erst neun, war ein bisschen neidisch gewesen. So dramatisch, so besonders zu sein - Janna schlich wie eine mythische, tragische Heldin mit dunklen Ringen unter den Augen herum und ging zur Schulschwester, wann immer ihr danach war. Janna war in die Annalen der Coolness eingegangen und würde diese unschlagbare Karte für den Rest ihres Lebens ausspielen können, wann immer sie besondere Aufmerksamkeit wollte.
»Also, äh, wir könnten deine Sachen packen und ...« Ihre Tante wirkte einen Moment lang verwirrt. »Wo wohnst du?«
Holly starrte sie genauso verwirrt an. »Wie bitte?«
Ehe ihre Tante antworten konnte, klopfte es an der Zimmertür. Und ehe Holly »Herein« sagen konnte, ging die Tür auf.
Barbara Davis-Chin in ihrer Cord-Latzhose und Birkenstocks, der Hippie ohne Make-up, das schwarze Haar zum Knoten hochgesteckt, stand einen Moment lang wie eingerahmt in der offenen Tür. Dann sah sie Holly und stürzte zu ihr. Hollys Tante rückte verlegen beiseite, und Barbara schloss Holly in die Arme und drückte die Wange an Hollys. Sie roch nach Schweiß und Parfüm, und Tränen liefen Holly über die Wangen.
»Holly, Kleines«, murmelte sie. »Ach, Holly.« Sie wiegte Holly in den Armen, und Holly klammerte sich an sie, so fest sie konnte, zitternd und weinend.
»Tina«, murmelte Holly schließlich, hielt sich an der Mutter ihrer Freundin fest und war zutiefst dankbar dafür,
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