Hexenkuss
Ehefrau sein.
Oder ist Daddy an der ständigen Streiterei schuld?
Darüber konnte sie sich ein andermal Gedanken machen. Für den Moment genossen sie und ihr Vater gemeinsam die friedliche Stille. Er war ein Geschenk, dieser Augenblick. Die meisten Eltern von Hollys Freundinnen kapierten nicht, dass es darum ging, einfach zusammen zu sein - nicht um verplante Tage und Abende voller »Aktivitäten« und teure Geschenke als Entschädigung für lange Arbeitszeiten und verpasste Ballettaufführungen. Aber Tinas Mom verstand das. Sie ist auch eine tolle Mutter.
Die Finger ihres Vater begannen zu erschlaffen, und sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf: Zeit zum Aufwachen, Floh.
Dann setzte die Panik ein, denn sie wusste, was dieser Traum bedeutete. Das Wort Überlebende hallte durch ihr benebeltes Hirn, und sie wusste, dass sie Zeit zu schinden versuchte: Wenn sie aufwachte, würde es um den Tod gehen. Sie würden ihr sagen, dass jemand gestorben war... Nein, Moment, das ist gar nicht sicher. Wir könnten alle Überlebende sein. Natürlich haben wir alle überlebt. Denn das hier ist mein Leben, und in meinem Leben passiert es nicht, dass jemand stirbt...
Die Stimme ihres Vaters flüsterte drängender: Wach auf. Und dann erkannte sie, dass die Worte von außerhalb ihres Kopfes kamen. Das bedeutete, dass er lebte, dass er tatsächlich hier neben ihr saß und versuchte, sie aus ihren Träumen zu wecken.
Ihr Herz schlug ein wenig schneller, und sie bemühte sich, die Augen zu öffnen. Sie war unglaublich müde. Ihr war schwindlig, als fiele sie aus großer Höhe. Dann zuckte ihr linkes Bein, wie Körperteile manchmal zucken, wenn man einschläft oder aufwacht. Wegen der Hitze auf ihrem Gesicht nahm sie an, dass sie direkt in die Sonne schauen würde, also versuchte sie, den Kopf zur Seite zu drehen, doch es ging einfach nicht.
»Holly. Wach auf.«
Und dann wachte sie auf, denn das war ganz eindeutig Dads Stimme. Sie wandte nicht nur den Kopf, sondern öffnete auch die Augen, ein Lächeln schon auf den Lippen, und -
Ein Schrei drang aus ihrer Kehle, der aus ihrem Bauch bis hinauf in den Kopf schoss. Sie schrie erneut, und noch einmal, denn ihr Vater beugte sich über sie, aber sie hatte keine Ahnung, woher sie wusste, dass dies ihr Vater war, weil das Gesicht der Gestalt zerschmettert und plattgedrückt war, die Haut schwarz und aufgedunsen. Da waren keine Augen, nur zusammengepresste Lider. Die Nase war von einem frontalen Aufprall zerschlagen worden, Knorpel und Knochen waren über die Wangen verschmiert. Das Kinn war entzweigespalten, und der Kiefer baumelte von den Gelenken wie die Flügel eines Brathähnchens.
Eine Stimme drang hohl aus dem eingeschlagenen Mund, doch Holly schrie so laut, dass sie die Worte nicht verstehen konnte. Sie konnte nicht einmal hören, ob es ihr Vater war, der sprach. Panisch wich sie vor der Gestalt zurück, sie schlug um sich vor Grauen, krabbelte rücklings davon. Das Gesicht folgte ihr und wandte dann den Blick in eine andere Richtung.
Etwas stach ihr schmerzhaft in den Arm, und das zerschmetterte Gesicht schmolz wie in Zeitlupe dahin. Während ihre Schreie zu Stöhnen und dann leisem Wimmern verklangen, musste sie mit ansehen, wie die geschwollene, violette Haut von Stirn und Wangen ihres Vaters glitt, über die nun hohlen Wangen tropfte und über das Kinn floss wie ein Wasserfall. Die Knochen streckten sich, wie weiches Kerzenwachs, grausig in die Länge. Einen Moment lang starrte ein schwarzes Oval sie an. Die Schattenmaske starrte sie an, und dann verschwand sie ganz plötzlich.
An ihrer Stelle erschien das Gesicht einer Frau, sehr schön und glamourös geschminkt. Sie war recht jung und hatte Dads dunkle, glühende Augen, Dads volle Lippen und Dads dunkles, widerspenstiges Haar. Holly blinzelte, zu benommen, um zu sprechen, und die Frau hob die Hand.
»Ich bin deine Tante«, sagte das Gesicht mit leuchtend roten Lippen, und dann schlief Holly wieder ein.
Auf einem wunderschönen, sanften Meer hielt sie die Hand ihres Vaters, und -
Und Holly Cathers Leben drehte sich nun doch um den Tod.
Sie war die einzige Überlebende des Rafting-Unfalls. Mom, Dad, Tina und sogar ihr Bootsführer Ryan - alle waren tot.
Sie lag in einem Krankenhaus in der Nähe des Grand Canyon, wo sie wegen Unterkühlung behandelt wurde, und als sie ausgerastet war, hatte sie ein starkes Beruhigungsmittel bekommen. Aber ich habe ihn gesehen. Ich habe meinen Vater gesehen, ganz... schwer verletzt. Als
Weitere Kostenlose Bücher