Hexenkuss
entlang, und Holly folgte ihm. Zwei Mal blieben sie stehen, und er presste das Ohr an eine Tür und lauschte. Beim dritten Mal war er offenbar sicher, dass niemand in dem Zimmer war, und öffnete die Tür. Die anmutigen Nebelschwaden hielten an der Schwelle inne, als wollten sie sie nicht überschreiten. Ohne Hollys Hand loszulassen, schob Jer die Tür mit der Schuhspitze zu und drehte sich zu ihr um.
Es gab keinen Smalltalk, keine Fragen nach Wollen oder Wünschen, oder warum um alles in der Welt sie so in diesem Zimmer standen. Holly trat vor ihn und neigte den Kopf leicht zurück, und als seine Lippen sich auf ihre senkten blieb alles andere in ihrer Welt, in ihrem Universum, einfach stehen. Es gab nur sie und Jeraud Deveraux und dieses kleine, private Scheibchen Raum und Zeit, das sie miteinander teilten.
Es war so seltsam - Holly hatte das Gefühl, ihn schon seit Jahren zu kennen, ein Leben lang. Wie seine Hände an ihren Armen hinabstrichen und sich um ihre Taille legten, wie die Muskeln in seiner Brust unter ihren Fingerspitzen bebten, der Rhythmus ihrer Herzen, die im vollkommenen Einklang schlugen - all das war so vertraut, so richtig. Ihre Hand hob sich wie von selbst, und sie genoss es, wie weich sein Haar durch ihre Finger glitt. Sie bog den Rücken durch, um ihre Brust noch fester in seine Handfläche zu schmiegen, als er das Band löste, das eine Seite ihres Kostüms zusammenhielt.
Als er sie aufs Bett sinken ließ, spielte nichts mehr eine Rolle außer Jer und dass sie mit ihm zusammen war, ihm so nah war, wie sie nur konnte. Er schob sich auf sie, und sie zerrte an seinem Pullover, weil sie seine nackte Haut an ihrer spüren wollte. Sein Gewicht machte sie wahnsinnig vor Begehren, und jeder Teil von ihr schrie danach, sich mit ihm zu verbinden, eins mit ihm zu sein, mit Leib und Seele. Sie waren so kurz —
»Holly?«
Ho lly blinzelte. Hatte sie etwas gehört? Rief jemand ihren Namen? Nein, natürlich nicht - der wirbelnde Nebel war wieder da, aber sie und Jeraud waren die einzigen Menschen in diesem Raum -
» Holly, nein!«, schrie Amanda von der Tür her.
Jerauds Gesicht, eben noch leuchtend vor Leidenschaft, während er sie küsste, verzerrte sich plötzlich. Er riss den Kopf zur Seite, seine Augen blitzten vor Zorn. »Geh weg!«, knurrte er.
Erschrocken schnappte Holly nach Luft und spürte einen unangenehmen Stich in den Schläfen.
»Amanda? Bist du das?«
Wind strich über ihr Gesicht, und ihre Augen weiteten sich, als sie ihre Cousine neben dem Bett stehen sah. Alles hinter ihr leuchtete, als schiene der Mond in ihrem Rücken, und sie sah furchtbar wütend aus.
Amanda hob den Arm und packte Holly bei der Hand.
Ein scharfer Krach explodierte in Hollys Kopf, wie ein Blitzschlag in einer großen Metallschüssel. Schmerz zuckte über ihre Handfläche, die sich plötzlich anfühlte, als hielte sie ein Stück glühende Kohle darin. Licht, heiß und gelb, kochte aus dem Nichts herauf und schwappte über ihnen zusammen, und als sie versuchte, das Gesicht mit den Händen zu bedecken, kam Amandas Hand mit und schwang wild durch die Luft. Am Scheitelpunkt des Schwungs spürte Holly, wie die Bettdecke unter ihr zurückblieb und sie vom Bett hochgehoben wurde. Amandas Hand entglitt ihr, und sie flog durch den Raum wie eine gegen die Wand geschleuderte Puppe.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war da nichts mehr außer dem ängstlichen Gesicht ihrer Cousine und einem höllischen Schmerz im linken Arm.
»Wie fühlst du dich?«
Holly saß auf der Kante des Krankenhausbetts. Sie blickte auf und sah Amanda vorsichtig durch einen Spalt zwischen den Vorhängen spähen, die eine kleine Kabine in der Notaufnahme bildeten. Ihre Cousine wirkte noch blasser als sonst und sehr dünn in ihrem schwarzen Kleid.
»Besser«, sagte Holly und zuckte mit den Schultern. Diese Bewegung bereute sie sofort, denn sie löste einen dumpfen Schmerz in dem Arm aus, der jetzt mit einer Schlinge aus Nylon und Stoff an ihrer Brust fixiert war. Sie hatten den Arm vereist, bis er ihr fast abgefroren war, ehe der Arzt ihn mit einem entsetzlich schmerzhaften doppelten Ruck gerichtet hatte. Jetzt wartete sie nur noch auf den letzten Papierkram und ein Rezept für Schmerztabletten.
Sie wollte dringend hier raus und nach Hause - schlimm genug, dass sie sich den Arm gebrochen hatte, aber musste sie wirklich noch hier herumsitzen, in silbernem Körperpuder und einem zerrissenen Kostüm, und sich von allen anstarren lassen, die
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