Hexenmacht
einem der überquellenden Regale heraus. "Hier", sagte sie. "Das ist ein Exemplar der Absonderlichen Kulte, einem sehr seltenen, aber äußerst profunden okkultistischen Standardwerk, das von einem gewissen Hermann von Schlichten verfasst wurde. Darin befindet sich die Beschreibung eines solchen Rituals..."
Tante Lizzy umfaßte die Absonderlichen Kulte mit beiden Händen und sah mich dann mit zusammengepressten Lippen an. Ihr Blick bekam etwas Sorgenvolles. "Auch wenn du dieser Sache skeptisch gegenüberstehst, Patti - es könnte mehr an der Sache dran sein, als du glaubst!"
Ich nickte langsam.
Nachdenklich sah ich auf die Zeitungsausschnitte, die Tante Lizzy aus ihrem Archiv herausgesucht hatte. Sie lagen übereinandergestapelt auf dem kleinen runden Tisch. Ich nahm die Blätter an mich und überflog die Überschriften.
IST DIE KLEINE JENNIFER ÜBERSINNLICH BEGABT?, las ich da unter anderem. Darunter das unscharfe Schwarzweiß-Foto eines Kindergesichts.
Der Anblick traf mich wie ein Schlag vor den Kopf.
Ich konnte nicht genau sagen, was es war, das mich an diesem Gesicht so fesselte. Vielleicht der Blick der Augen...
Irgend etwas Bekanntes ist an diesem Mädchen!, durchzuckte es mich, und ich zermarterte mir in den nächsten Sekunden verzweifelt das Hirn darüber, weshalb dieses Gesicht mir bekannt vorkam.
Ich blätterte die anderen Artikel flüchtig durch und stieß auf ein neueres Foto. Es zeigte Jennifer Blanchard als junge Frau.
Und dann wusste ich es.
Ein kalter Schauder erfasste mich, als ich in ihr jene blonde Frau wiedererkannte, die ich im Traum zusammen mit Dr. Skull gesehen hatte...
"Patti!", hörte ich wie von Ferne die Stimme meiner Großtante. Ich war einen Augenblick lang völlig unfähig, irgend etwas zu sagen. "Mein Gott, Patti! Du bist ja ganz bleich geworden!"
Tante Lizzy hatte die Absonderlichen Kulte zur Seite gelegt, war von der Seite an mich herangetreten und fasste nun sanft nach meinem Unterarm.
"Ich habe von dieser Frau geträumt", sagte ich dann. "Von ihr und einem alten Bekannten..."
*
Als ich Steve in der Lounge des King Edward Hotels fand, sah er gerade auf die Uhr und mir wurde bewusst, dass ich recht spät dran war. Er schien schon eine Weile auf mich zu warten.
"Hallo", sagte ich daher etwas verlegen.
Er drehte sich zu mir herum und begrüßte mich mit einem sympathischen Lächeln.
Sein Blick glitt an meinem Kleid herab und er sagte: "Du siehst blendend aus, Patricia!"
"Danke... Du hast dich aber auch ganz schön in Schale geworfen!"
Steve trug Anzug und Krawatte - etwas, was ich noch nie an ihm gesehen hatte.
Er lachte kurz auf.
"Es soll doch ein rundum stilvoller Abend werden", meinte er. "Sicher."
Er bot mir seinen Arm, und ich hakte mich bei ihm unter.
"Komm", sagte er.
Ich hob die Augenbrauen.
"Wohin willst du mich entführen?"
"Es ist nicht weit von hier... Genauer gesagt, es befindet sich sogar im selben Haus!"
"Ach!"
Er führte mich zum Aufzug und nachdem wir diesen bestiegen hatten, drückte Steve auf die oberste Taste. "Ganz oben im King Edward befindet ich ein vortreffliches Restaurant. Man hat darüberhinaus einen fantastischen Blick über diese altehrwürdige Stadt..."
"Klingt nicht schlecht."
"Sag bloß, ich habe dir wirklich etwas Neues verraten!"
Ich seufzte. "Das hast du!"
"Ich dachte, du lebst seit ewigen Zeiten hier in London!"
"Das schon, aber leider gehöre ich nicht der Redaktion eines Gastronomie-Führer, sondern der einer Tageszeitung an und das bedeutet, dass ich kaum Zeit dazu habe, neue Lokale auszuprobieren!"
"Du Ärmste! Da bin ich besser dran!"
Ich sah ihn überrascht an, während der Aufzug uns emporhob.
"Inwiefern?"
"Na, als Selbständiger kann ich über meine Zeit selbst verfügen und brauche nicht nach der Pfeife von Leuten wie Michael T. Swann pfeifen!"
"Swann ist eigentlich ganz in Ordnung!"
Er grinste.
"Klar - du musst das sagen!"
Wir erreichten die oberste Etage und betraten wenig später ein sehr nobel wirkendes Restaurant. Steve hatte einen Tisch reservieren lassen. Er lag direkt am Fenster, so dass wir hinaus auf das abendliche London blicken konnten. Ein Lichtermeer in der Dämmerung.
Doch wenn ich hinaussah, dann wechselte dieses Bild für Sekundenbruchteile mit einem anderen. Dann sah ich eine Meeresbucht in der Dämmerung, auf der Nebelschwaden dahinkrochen. Ich dachte an die Tage von Tanger und diese Erinnerung vermischte sich mit dem, was ich in diesem Augenblick erlebte.
Der Kellner
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