Hexennacht
Licht.
Nirgendwo war ein verspäteter Zecher zu sehen; keine
Jugendlichen lungerten herum. Tot. Alles tot.
Sie gingen schweigend die Simeonstraße entlang. Bildete er
es sich nur ein oder wurde es tatsächlich endlich heller? Er
hatte keine Ahnung, wie spät es war; die Uhr an seinem
Handgelenk war schon vor einiger Zeit stehen geblieben. Mit der
Helligkeit verstärkten sich auch die seltsamen, fernen
Geräusche.
In Höhe des gotischen Dreikönigenhauses hatte er
plötzlich den Eindruck, als sehe er einen Schemen. Er schien
sich zu teilen; es wurden immer mehr. Und sie kamen auf sie zu.
»Siehst du das auch?«, fragte er Magdalena und deutete nach
vorn.
Sie kniff die Augen zusammen; es dauerte eine Weile, bis sie
nickte. Sie wichen den Schemen aus, doch schon nahten weitere. Es
wurden immer mehr. Bei dem nächsten Ausweichmanöver
bemerkten sie nicht, dass sie geradewegs in eine Gruppe von Schatten
hineingelaufen waren.
Es war, als würde man durch einen Tümpel voller
Emotionen waten. Es nahm Arved die Luft. Kurz hörte er ein
Stimmengewirr, das unbarmherzig über ihm zusammenschlug. Schon
war es vorbei; die Schemen waren weitergezogen.
Er schaute Magdalena an und wusste, dass sie dasselbe gespürt
hatte. Dann senkte sich die Dunkelheit wieder über die Stadt; es
war, als versickere das Grau der Dämmerung. Und alles war wieder
einsam und unbelebt.
Sie liefen an der Porta Nigra vorbei, machten sich nicht die
Mühe, die Fußgängerunterführung zu nehmen,
sondern eilten einfach über die Fahrbahn der Nordallee. Keine
Auto weit und breit. Dann die Paulinstraße hinunter, bis diese
in die Herzogenbuschstraße überging. Vorbei an den
Grabsteinhandlungen; eine kleine Straße wurde überquert
und sie befanden sich am Haupteingang des Städtischen Friedhofs,
der einladend offen stand. Weiter hinten bemerkte er die dunkle Masse
seines alten Bentleys. Er stand noch dort, wo ihn die Polizisten
angehalten hatten. Doch anderes war nun viel wichtiger.
»Ich glaube, ich kenne den Weg noch«, raunte Arved
Magdalena zu, als habe er Angst, jemanden oder etwas zu stören.
»Ihr Grab liegt direkt an der Mauer und daneben liegt ein
Grabmal, das wie ein Epitaph aussieht, mit Pilastern und Voluten und
einem alles überragenden Kreuz.«
Sie tauchten ein in die Finsternis des großen, alten
Friedhofes. Das Tor stand weit auf. Zuerst sahen sie kaum den Weg,
auf dem sie sich befanden. Kurz hinter dem Eingang bog Arved an den
Toiletten vorbei vorsichtig nach rechts in den Weg ein, der an der
Mauer vorbeiführte. Plötzlich leuchtete der Mond; es war,
als sei er eine Lampe wie bei einer Theateraufführung. Das
kalte, harte Licht beschien die Reihe der Gräber. Auf keinem
brannte ein Totenlämpchen.
Nach wenigen Minuten blieb Arved stehen. Er hatte Lydia Vonneguts
Grab gefunden. Es lag links neben dem Grab einer Familie von der
Kall, dessen Monument Arveds Erinnerung genau entsprach. Und nun
begriff er, was das Froschwesen gesagt hatte.
Das Grab war mit jungem Buchsbaum bepflanzt und ein genormtes
Holzkreuz steckte am Kopfende. Doch etwas lag auf dem
Buchsbaumteppich. Ein schwarzer Klumpen. Nein, zwei. Sie regten sich,
als würden sie langsam aufwachen. Dann plötzlich schossen
sie auf Arved los.
Magdalena sprang einen Schritt zurück und stieß einen
spitzen Schrei aus.
Arved verschlug es den Atem. Dann lachte er auf. »Lilith!
Salomé!«, rief er erfreut. Die beiden Katzen bremsten
knapp vor ihm, schmiegten sich an ihn und schnurrten. Er bückte
sich und streichelte sie. Sie ließen es willig geschehen. Arved
hätte es nie für möglich gehalten, dass er so froh
sein könnte, die beiden schwarzen Pelztierchen wiederzusehen. Er
hatte befürchtet, sie für immer verloren zu haben.
»Das sind Lydia Vonneguts Katzen«, klärte er Magdalena
auf, die sich inzwischen wieder gefangen hatte und die beiden Tiere
mit einer Mischung aus Misstrauen und Sympathie betrachtete. Als sie
eines davon streicheln wollte, lief es fort. Das andere hetzte
hinterher. »Halt«, rief Arved. Die beiden Katzen blieben
kurz stehen, sahen sich um und liefen dann weiter. Arved setzte ihnen
nach. »Was haben sie denn?«, fragte er verwundert.
Magdalena folgte ihm.
Die Katzen schauten immer wieder hinter sich und vergewisserten
sich, dass man sie nicht aus den Augen verlor. Unter dem
unwirklichen, aber entsetzlich hellen Theatermond huschten sie
über den Weg neben der Friedhofsmauer. Am Eingang liefen sie die
Herzogenbuscher Straße stadtauswärts entlang. Und
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