Hexennacht
Wange. »Jetzt ist es
vorbei.«
»Warum sollte ich das glauben?«, fragte sie und schaute
ihn schwindelnd tief an.
»Weil ich hier bin.«
»Auch du wirst wieder gehen.«
»Nur mit dir.«
»Und mit Jürgen.«
Arved seufzte leise. »Und mit Jürgen. Wir müssen
herausfinden, wo er ist. Kannst du dich an Einzelheiten des Ortes
erinnern?«
Magdalena schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich erinnere
mich an eine Frau, die bei ihm war.«
»Eine Frau?«, fragte Arved verwundert und trat einen
Schritt von Magdalena zurück.
»Sie trug einen Umhang, aber ihr Gesicht habe ich deutlich
gesehen. Es war eine scheußliche alte Vettel. Aber am
schlimmsten waren ihre Augen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Das
eine war grün und das andere schwefelgelb.«
Arved hielt den Atem an. Wie gut kannte er den Blick dieser
schrecklichen verschiedenfarbigen Augen.
29. Kapitel
Arved glaubte, sich an etwas zu erinnern. Ein riesiger Baum in der
Ferne, davor eine Mauer mit einem Durchgang. Natürlich, es
hätte überall sein können, aber er hatte einen solchen
Anblick schon einmal gesehen. Wenn er nur wüsste, wo das gewesen
war!
Er stand immer noch vor Magdalena Meisen und schaute sie fragend
an. Dann fiel es ihm ein. »Hast du vielleicht auch Kreuze
gesehen? Oder Grabsteine?«
Magdalena dachte nach. »Ich weiß nicht… Ich kann
mich an kleine Parzellen erinnern, an beschnittene Büsche. Ja,
ich glaube, da waren Grabsteine. Jürgen ging auf einem Kiesweg,
neben dieser schrecklichen Frau mit den verschiedenfarbigen
Augen.«
»Der Friedhof von Sankt Matthias«, sagte Arved mit
Bestimmtheit.
»Natürlich!« Magdalena sprang aus ihrem Sessel auf
und ergriff Arveds Hände. »Wir müssen sofort
dorthin.«
»Sie sind bestimmt nicht mehr da«, gab er zu
bedenken.
Magdalena schaute ihn bittend an. Tiefe Verzweiflung lag in ihren
Augen. »Wir müssen es versuchen. Es ist unsere einzige
Spur. Verlass nicht auch du mich noch!« Ihr Blick wurde
feucht.
Arved nickte. »Komm, wir gehen. Es ist ja nicht
weit.«
Sie traten aus dem Haus in die Finsternis einer nicht enden
wollenden Nacht. Die Saarburger Straße lief auf die
Klostermauer zu, vor der sie nach links abbogen. Die alten Bäume
im Klausurgarten wirkten wie lahme Giganten, die einander traurig von
vergangenen Zeiten erzählten.
Als Arved und Magdalena in die Medardstraße einbogen und
immer noch an der Klostermauer entlangschritten, sagte er: »Ich
habe dich gesehen. In meinen Träumen. In meinen Visionen. Aber
da warst du nicht hier in der Stadt. Du warst in schrecklichen
Räumen, die ich kaum beschreiben kann.« Er sah sie von der
Seite an.
»Ich habe nach dir gerufen«, gestand sie. »Immer
wieder – nach allen, die mich je verlassen haben. Aber ich war
zuerst in diesem Gasthaus und dann immer hier – irgendwie. Und
ich habe diese Schmerzen gehabt. Diese Schmerzen, weil ich immer
wieder verlassen worden bin. Ich habe die schlimmsten Tage meines
Lebens noch einmal durchlebt. Ich will auch weg von hier. Aber nicht
ohne Jürgen. Was hast du mit deinem inneren Auge
gesehen?«
Er versuchte ihr seine Visionen zu beschreiben, und sie hörte
still zu.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Das musst du
dir eingebildet haben. Aber es stimmt, dass ich in Gedanken bei dir
war. Nur du kannst uns hier herausholen. Ich habe darum gefleht. Und
irgendwann konnte ich nicht einmal mehr das. Ich war so sehr in
meinen Erinnerungen gefangen. Es wurde höchste Zeit, dass du
kamst.«
Sie hatten Sankt Matthias erreicht. Eigentlich erwartete Arved,
dass das Klosterportal verschlossen war, aber es stand weit offen
– genau wie der kleine Durchgang zum Friedhof links von der
trutzigen Kirche. Eine müde Laterne spendete milchiges Licht,
jenseits dessen Schattenteiche lagen. Sie gingen an dem Oktogon der
Quirinus-Kapelle vorbei und sahen dahinter den mit der Nacht
verwobenen Durchgang in der Mauer. Die gewaltige Linde in der Ferne
war kaum mehr als ein Schattenberg.
Magdalena blieb stehen. »Ja«, sagte sie. »Hier war
es.«
Sie schritten durch den Bogen und gingen nach rechts an der alten
Mauer vorbei. Eine der Kreuzwegstationen hatte ein wenig Licht
eingefangen, das von einer weiteren Laterne hinter der Kapelle
herbeiströmte. Es handelte sich um die zweite Station: Christus
nimmt das Kreuz. Gleichzeitig war es der Grabstein für eine
Familie Marx. Wie passend, dachte Arved. Die Christusdarstellung war
grotesk verzerrt. Auf einem riesigen Körper saß ein viel
zu kleiner Kopf, der
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