Hexenseelen - Roman
Verlangen stillen konnte. Erst irgendwann später fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte - er war nicht mehr an den Metallstuhl gekettet. Seine Hände wurden hinter seinem
Rücken von Handschellen gehalten, die gebrochenen Beine konnte er dagegen frei bewegen. Die angeknacksten Rippen taten bei jedem Atemzug weh, für ihre Heilung hatte er keine Energie mehr. Die kleinste Regung brachte neue Schmerzen, er erstickte an dem Gestank seines eigenen Blutes.
Die Tür ging schwer und quietschend auf, und seine Peiniger betraten den Raum. Conrad hoffte, sie würden ihn endlich töten, denn er konnte nicht mehr. Aber die beiden Nachzehrer blieben auf der Schwelle stehen und stießen einen Jugendlichen herein. Der Junge stolperte über den Schutt, der den Boden hier und da bedeckte, fing sich aber wieder und wirbelte herum. »Hey, ihr Idioten, was soll das?«
Er war ein Mensch. Einfach nur ein Mensch, dessen Aura orange, durchzogen von einem matten Dunkelgrün, leuchtete und Conrads Gier schürte. Conrads Schmerzen schwanden, eine Taubheit breitete sich in seinen Gliedern aus, benebelte seinen Verstand. Er riss an den Handschellen, fühlte, wie das Metall ihm ins Fleisch schnitt.
»Uns ist zu Ohren gekommen«, wandte sich einer der Nachzehrer im Ton eines Richters an den Jugendlichen, »du zweifelst an der Zukunft, die der Messias seinen Anhängern zu schenken vermag. Den Aufpassern ist mehrfach deine Wankelmütigkeit aufgefallen, als du Befehle zu befolgen hattest. Du weißt, wie die Leugner des Messias bestraft werden. Doch wir geben jedem eine Chance, sich noch zu beweisen. Wenn du die nächsten zwanzig
Minuten in diesem Raum überlebst, kommst du zurück zu deiner Gruppe, um dem Messias zu dienen.«
Der Junge sah sich um, bis sein Blick an Conrad haften blieb, und lachte auf. »Überleben? Wer soll mir hier gefährlich werden? Der da? Das ist doch absurd.«
»Stimmt, zwanzig Minuten sind in der Tat absurd. Zehn.«
Sein Partner maß den Jungen mit einem abschätzenden Blick von Kopf bis Fuß und meinte: »Glaubst du nicht, wir sollten es ein wenig fairer gestalten?«
»Hast Recht, Timo.« Er griff an seinen Gürtel und warf dem Jungen ein Messer und einen Schlagstock vor die Füße. »Hier. Bedien dich, bloß keine falsche Scheu.« Mit diesen Worten verließen sie den Raum und sperrten die Tür hinter sich sorgfältig zu.
Conrad wollte den Jungen nicht töten. Er wünschte dem Burschen sogar von Herzen, ihm würde es gelingen, nach dem Messer zu greifen und sein teuflisches Dasein zu beenden. Zumindest für ein Weilchen. Denn die Gier hielt den toten Körper am Leben, unter allen Umständen und der Natur zum Trotz. Auch gefesselt und fast zu Tode gequält, war er diesem Jungen überlegen. Der Bursche wehrte sich nur schwach gegen den letzten Kuss und starb, noch bevor er sich der Gefahr überhaupt bewusst wurde. Als er sich nicht mehr regte, klärte sich Conrads Verstand.
Er verabscheute sich für das, was er getan hatte. Für diese blinde Tötungslust, die ihn zu einem Tier machte und gegen die er sich nicht wehren konnte.
Andere Bilder stoben aus Conrads Erinnerungen empor. Das letzte zeichnete Stellas verbissenes, gequältes Gesicht, ihre Hand, die das Messer an seine Augen führte.
Es folgte Dunkelheit. Kalt, lauernd, leer. Conrad krümmte sich auf dem Boden, zitterte am ganzen Körper und bekam kaum noch Luft. Er wusste nicht mehr, was Gegenwart und was Vergangenheit war. Ob er sich noch immer in den Händen seiner Feinde befand oder woanders - wo, war ihm entglitten. Vielleicht würde gleich die Metalltür aufgehen, und seine Peiniger würden hereinkommen, vielleicht …
Er machte ein paar tiefe Atemzüge, fuhr sich über die feuchte Stirn, an der sein Haar klebte. Seine Hände … Sie waren nicht mehr gefesselt. Er musste fliehen, die Unachtsamkeit seiner Wächter ausnutzen. Gleich würden seine Bewacher hereinkommen … doch es war ihm plötzlich egal. Alles war ihm egal.
Er lag auf dem Boden.
Nicht mehr im Schutt des staubigen Bunkers, sondern auf glattem Parkett, das er fühlte, wenn er mit den Händen darüberstrich. Natürlich. Adrián, Maria und die anderen hatten ihn befreit und in die Villa gebracht, auch wenn er das Gefühl hatte, etwas stimmte nicht, etwas wäre dabei falsch gelaufen. Aber nun befand er sich in Sicherheit. Was war mit ihm geschehen? Erst nach und nach rekonstruierte er die Zeit kurz vor dem Flashback. Gütiger, sollte ihm das öfter widerfahren, würde er es nicht lange
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