Hexenseelen - Roman
für eine Rebellion war dies kein geeigneter Zeitpunkt, das wusste sie. Also fügte sie sich in ihr Schicksal.
Die Schwarzhaarige steuerte den Hauseingang an. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin, als weile sie nicht wirklich in dieser Welt. Der Schlüsselbund klimperte, während sie sich bemühte, die Tür aufzusperren. Wortlos
wartete sie, bis Ylva hinter ihr ins Treppenhaus kam, dann stieg sie zum ersten Stock hinauf. Genauso still öffnete sie die Wohnungstür.
Ylva trat in den Flur, der kaum größer als ein Aufzug schien, dafür aber mit einer hohen Holzlamellendecke ausgestattet war, wodurch sie fast den Eindruck gewann, in einem Schacht zu stehen. Eine vergilbte Raufasertapete bekleidete die Wände, auf dem Fußboden wölbte sich an einigen Stellen das Linoleum. Der Durchgang ins Wohnzimmer erlaubte einen Blick auf ein Sofa, einen Ohrensessel und Schränke aus dunklem Holz, die dem lichtarmen Raum einen düsteren Anstrich gaben. Die Luft roch staubig und muffig. Ylva schnupperte etwas intensiver, konnte aber kaum Spuren von Conrad - oder besser gesagt: von seinem Geruch nach exotischen Gewächsen - ausmachen. Und da sie keinerlei Pflanzen entdeckte, musste er sich hier genauso unwohl fühlen wie seine grünen Sprösslinge und die Räumlichkeiten eher selten nutzen.
»Möchtest du vielleicht ein Bad nehmen?«, fragte die Schwarzhaarige. Ihre Stimme klang müde und seltsam gebrochen und war dennoch nicht ohne eine Spur von Herzlichkeit.
Ylva schüttelte den Kopf, ging ins Wohnzimmer und schlüpfte aus ihren durchnässten Klamotten. Der Nager huschte unter den Sessel und lugte beleidigt hervor, seines schönen Plätzchen im Dekolleté beraubt. Die Frau kam ebenfalls ins Zimmer, wandte sich aber beschämt ab, obwohl Ylva nicht verstand, was dabei war.
»Hier, nimm das zum Überwerfen«, sagte die Schwarzhaarige und holte hinter dem Sofa eine Fleecedecke hervor.
Ylva wickelte sich darin ein und verkroch sich auf den Sessel. Der Stoff fühlte sich angenehm auf ihrer Haut an, kein Vergleich zu dem kratzigen Pullover, den sie nur zu gern ausgezogen hatte. Sofort krabbelte die Ratte am Sessel hoch und machte es sich auf ihrer Schulter gemütlich.
»Du heißt Alba, wenn ich das richtig mitbekommen habe, nicht wahr?« Sie musterte die Frau. Der Inbegriff der Vollkommenheit, auch wenn sie durch die Ereignisse einiges an Glanz verloren zu haben schien: Eine wohlgeformte Figur mit Rundungen an den richtigen Stellen, schlanke, lange Beine, ein sanftmütiges Gesicht, eine dichte rabenschwarze Lockenpracht. Und diese Augen! Groß, intensiv grün, umrandet von dichten Wimpern. Nie hätte Ylva gedacht, dass ein Mensch - oder überhaupt ein Wesen aus Fleisch und Blut - so anbetungswürdig aussehen könnte. Nur diese tiefe Traurigkeit, die die Züge der Frau zeichnete, ließ sie ermattet und kraftlos erscheinen.
Als Antwort kam ein stummes Nicken. Alba hatte einen Arm um ihren Leib geschlungen, mit dem anderen spielte sie mit einer ihrer Haarsträhnen. Ihrer Haltung nach zu urteilen, fühlte sich die junge Frau hier genauso fremd und fehl am Platz wie Ylva selbst. Dabei hatten sie doch etwas gemeinsam - Finn. Oder zumindest eine Erinnerung an ihn.
»Ich habe dich im Keller gesehen«, fuhr Ylva zögerlich
fort. Etwas sagte ihr, sie sollte die junge Frau in ein Gespräch verwickeln, ihr Trost und Halt geben: Du musst etwas tun. Für diese Schönheit, die zu zerbrechen droht. »Du kanntest meinen Namen. Weißt du etwas über mich?«
Alba wankte auf das Sofa zu, wobei sie fast über Ylvas achtlos hingeworfene Kleidungsstücke stolperte, und ließ sich in die Polster sinken. »Nicht wirklich. Du hast zu …« Sie hielt inne, schluckte und presste sich eine Hand auf den Mund, als müsse sie etwas in sich ersticken. Erst nach einigen Sekunden hatte sie sich weit genug gesammelt, um den Satz zu beenden. »Du hast zu … Finn … gehört.« Der Name kam ihr nur mühsam über die Lippen. Erneut hielt sie sich den Mund zu, schloss die Lider und schluchzte. Ihre Schultern bebten leicht. Eilig wischte sie sich über die Wangen, doch die Tränen wollten nicht versiegen.
Ylva starrte sie an, mit Augen, die trocken waren und brannten, und hätte gern mitgeheult. Zu gut erinnerte sie sich, wie verzweifelt sie war, als sie Finn tot entdeckt hatte. Aber das durfte sie nicht. Nicht jetzt. Deshalb zog sie die Decke fester um ihre Schultern zusammen und sagte nur: »Ja, an Finn kann ich mich erinnern. An keinen sonst, nur an ihn.«
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