Hexenseelen - Roman
Conrad ihr irgendwann verzeihen.
Auf der Straße sah sich Ylva um, genauso wie ihre Ratte, die aus dem Ausschnitt ihres Pullovers lugte. Sie befanden sich in einer ruhigen Gegend, das miserable Wetter
hatte anscheinend die letzten Passanten verscheucht. Umso merkwürdiger wirkte die größere Gruppe, die sie vor einem Blumenladen entdeckte. Gestalten, die der vor Regen triefenden Umgebung etwas Trostloses verliehen, so reglos, wie sie da standen. Wesen, die einen fremden, ganz und gar nicht menschlichen Eindruck vermittelten. Sie hatten um etwas, was auf dem Boden lag, einen Kreis gebildet - sowohl die Nachzehrer als auch die Metamorphe. Niemand redete, und wenn doch, dann nur flüsternd und wie erstickt. Ylva witterte Blut, einen ganz leichten Verwesungsgeruch, und ihre Alarmglöckchen schrillten.
Als Conrad sich der Gruppe näherte, ging ein aufgeregtes Tuscheln durch die Wartenden. Ein etwa dreizehnjähriger Junge von fülliger Statur kämpfte sich einen Weg frei. »Alfred!«, stieß er atemlos hervor. »Es ist Alfred.«
Die anderen stoben auseinander und gaben die Sicht auf das Etwas zu ihren Füßen frei. Ylva spürte, wie sie aufschreien wollte, um dann doch bloß zu keuchen. Sie wollte wegsehen, sich umdrehen und die Augen schließen und sah trotzdem hin, weil das Grauen sie in seinem Bann hielt.
Auf dem Bürgersteig lag der Körper eines Teenagers, nackt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Tiefe Wunden bedeckten seinen Leib, aus einigen ragten gebrochene Knochen. Doch all die Verletzungen verblassten, als Ylva ihm ins Gesicht blickte, von dem die Haut heruntergeschält zu sein schien. Streifen um Streifen. Die Nase war zertrümmert, die Augen ausgehöhlt. Auf der Brust
des Toten prangte eine Botschaft, mit einem Messer ins Fleisch geritzt.
»›Das Los der Verblendeten‹. Dios mío , was soll das heißen?«, rief Adrián aus, und Ylva bemerkte erst jetzt, wie sie unwillkürlich seinen Schutz gesucht hatte. »Wer hat ihm das angetan?«
Er bekam keine Antwort.
Endlich gelang es Ylva, den Blick abzuwenden. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie würgte, konnte aber nicht erbrechen. Unter Krämpfen sank sie zu Boden und war froh, dass niemand sie beachtete.
Kapitel 9
N icht hinsehen! Nie wieder die Lider aufschlagen!
Sie versuchte sich einzureden, dass der Gefolterte nicht wirklich ein Junge war. Dass er zu den Nachzehrern gehörte, für die der Tod einen ganz anderen Stellenwert hatte. Trotzdem gelang es ihr nicht, das Ganze auf die leichte Schulter zu nehmen. Allein der Gedanke daran, dass ein Wesen einem anderen so etwas antun konnte, ließ sie schaudern. Derartiges durfte einfach nicht Realität sein.
Nicht hinsehen! Die Zeit, in der sie ohne jedes bisschen Verstand durch die Welt gestreift war, imponierte ihr immer mehr. Denn von dieser Welt, in die sie geraten war, in der so etwas Furchtbares geschehen konnte, wollte sie nichts wissen.
»Bringen Sie Alfred in den Laden«, drangen Conrads Worte zu ihr durch und rissen sie aus der Verzweiflung, auch wenn die Aufforderung nicht ihr galt. Erst als sie seine leise, gefasste Stimme hörte, wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. »Er soll nicht so auf der Straße liegen. Außerdem können wir nicht das Gedächtnis jedes Passanten manipulieren, damit keiner den Leichnam bemerkt und Fragen stellt.«
Ylva hob den Kopf und schaute zu ihm auf. Seine Worte gaben nicht nur ihr Halt. Die Mutlosigkeit, die die Wartenden gefangen hielt, wich von ihnen. Eine Nachzehrerin hob den Toten auf die Arme und trug ihn von der Straße. Einige folgten ihr.
»Wer hat ihm das angetan?«, knurrte Adrián und knirschte mit den Zähnen. Ylva brauchte keinen Dämon, um seine Gefühle zu erraten. Der Mann stand kurz davor, auf den Nächstbesten loszugehen. Sie konnte nur hoffen, ihm schnell genug aus dem Weg zu huschen, wenn er durchdrehte. »Ich tippe auf die Biester.« Er fuhr herum und sah Linnea direkt an. »Sag es lieber gleich. Oder ich bringe es aus dir heraus, aber dann mit meinen Methoden. Hast du befohlen, Alfred zu foltern und umzubringen?«
Die wenigen Nachzehrer, die noch geblieben waren, unterstützten ihn mit einem zustimmenden Murren. Wie auf ein Kommando trennten sich die Umstehenden in zwei Gruppen: die Untoten und die Metamorphe, die einander hasserfüllt musterten. Ylva spürte, wie die Spannung zwischen den beiden Parteien rasch wuchs. Ein winziger Funke würde reichen, um den zerbrechlichen Frieden, der im Moment zwischen ihnen herrschte, jäh zu
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