Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
Mannes, in seinen verängstigten Augen? Was sollten sie ihm erzählen, diese Augen des damals Vierundsechzigjährigen, der verstört in die Kamera des Polizeifotografen blickte? Die Wahrheit?
Und was, wenn sich diese Wahrheit als etwas ganz Fürchterlichesherausstellte, jetzt nach fünfzehn Jahren und im Licht der jüngsten Ereignisse? Wenn die Wahrheit hieß: Klaus Wagner, du hast damals Mist gebaut. Du hast deine Arbeit nicht richtig gemacht und nicht objektiv ermittelt. Du hast den Kindern nämlich von vornherein kein Wort geglaubt, und das nur, weil du Kinder nicht magst. Auch wenn dir das vielleicht gar nicht bewusst war, hast du es trotzdem nur darauf angelegt zu beweisen, dass die Mädchen lügen. Aber sie haben nicht gelogen, Klaus Wagner, sie haben die Wahrheit gesagt. Doch du hast sie mit deinen Fragen verängstigt und durcheinander gebracht, und deshalb haben sie sich ganz schnell in solche Widersprüche verwickelt, dass schließlich sogar die Psychologin die Aussagen der Kinder angezweifelt hat. Und jetzt, Klaus Wagner, jetzt hat der Mann, dem du die Unschuld bescheinigt hast, wieder zugeschlagen. „Mein Haus ist die Hölle. Sucht die Kinder des Teufels.“ Diese Botschaft war für dich, Klaus Wagner. Und, dämmert dir was? Ahnst du die Wahrheit?
Die Wahrheit! Ja, glaubte er tatsächlich, es könnte die Wahrheit sein, was er sich da zusammenphantasierte? Natürlich war es möglich, dass Moser eine tickende Zeitbombe gewesen war, und dass man die vermissten Mädchen in seinem Haus finden würde, eingekerkert, missbraucht, gequält, vielleicht tot. Aber Moser war jetzt fast achtzig. Ein schwacher, alter Mann, ein Greis, der zwei Vierzehnjährige in seine Gewalt bringt? Sie vergewaltigt? Ziemlich unwahrscheinlich. Da war es doch genauso möglich, dass Moser tatsächlich unschuldig war und jetzt in der Zeitung von den neuerlichen Verdächtigungen gelesen hatte und keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als freiwillig in den Tod zu gehen. Einen Tod, den er so inszeniert hatte, dass die, die ihn entdecken würden, das ganze teuflische Ausmaß an Grausamkeit, Wahnsinn und Zynismus erkennen müssten, das sein Leben zur Hölle gemacht hatte.
Sinnlose Überlegungen. Sinnlose Selbstquälerei. Sinnlose Gedanken,die sich in Wagners übermüdetem Gehirn im Kreis drehten. Er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden so gut wie nicht geschlafen. Und jetzt rächte sich sein Verstand dafür mit einer heillosen Verwirrung, in der Schuldgefühle, Zweifel und absurde Ängste ein wahres Massaker unter den klaren Gedanken und Gewissheiten anrichteten. Wie in einem Albtraum. Ja, das war es: Wagner hatte einen Albtraum. Er war hellwach und befand sich in einem Albtraum. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht für das, was er hier tat.
E s war drei Uhr früh. Wagner stand seit einer halben Stunde unter seiner Dusche und ließ das heiße Wasser an sich herunter rinnen. Er wollte gar nicht mehr damit aufhören, und wenn aus dem Boiler kein heißes Wasser mehr kommen würde, egal, dann würde er eben kalt weiterduschen. Wichtig war nur, dass er endlich den Dreck loswurde, diesen ganzen Mist, der an seiner Haut klebte. Und nicht nur an seiner Haut.
Was soll der Unsinn, hatte Cerny gesagt und ihm die Akte Moser weggenommen, glaubst du, wenn du in der Scheiße von vorgestern herumwühlst, ändert sich irgendwas an der Scheiße von heute?
Und vermutlich hatte Cerny Recht. Ganz sicher sogar. Es half jetzt niemandem, fünfzehn Jahre alte Ermittlungsergebnisse in Zweifel zu ziehen. Dafür war später immer noch Zeit. Jetzt würden Zweifel und Vermutungen nur den Blick auf die Fakten verstellen. Und die waren schrecklich genug.
Entweder hatte Cerny zu seiner gewohnten Professionalität zurückgefunden, oder er war ebenfalls völlig übermüdet gewesen – jedenfalls hatte er keinerlei Emotionen gezeigt, als er mit leiser, ruhiger Stimme über den aktuellen Stand der Untersuchungen in Mosers Haus berichtet hatte.
Zunächst Mosers Leiche. Außer einem kleinen Hämatom am Kopf keine äußeren Verletzungen. Todeszeit vermutlich vor etwas mehr als einer Woche. Todesursache unbekannt. Am Boden unter Mosers Bett ein Fläschchen mit dem Rest einer unbekannten Flüssigkeit. Also möglicherweise Suizid. Genaueres nach der Obduktion.
Ist er eigentlich niemandem abgegangen?
Offenbar nicht. Keine Angehörigen, soviel wir bis jetzt wissen. Hat völlig allein gelebt. Hat sein Haus in letzter Zeit nie verlassen, sagen die Nachbarn.
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