Hexenstein
sicher sehr kurz hintereinander geführt worden. Der Schulterknochen zeigt eine erhebliche Einwirkung. Schaut sehr emotional aus … das Ganze.« Sie wartete kurz, überlegte, und fuhr dann fort. »Er war nicht sofort tot, so wie es gewesen wäre, wenn einer der Schnitte die Halsschlagader erwischt hätte. Hat wohl einige Zeit gedauert.«
»Wie lange etwa?«, fragte Wenzel.
»Ist das erheblich?«, provozierte sie ihn, ohne dabei aufzusehen. Natürlich war es erheblich.
»Ist schon erheblich. Je nachdem haben wir es mit Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge zu tun. Macht nicht wenige Jahre Unterschied aus.«
Sie war mit der Öffnung am Hals beschäftigt und es war, als hätte sie Wenzel nicht zugehört. »Die Tatwaffe war einschneidig, die Klinge etwa zwanzig Zentimeter lang, circa eineinhalb Millimeter stark. Könnte ein dünnes Fleischermesser gewesen sein. Ich hatte letztes Jahr ja den Metzger hier liegen. Das sah so ähnlich aus.«
»Metzger?«, fragte Wenzel, der von dem Fall gar nichts gehört hatte.
Jetzt sah auch die Medizinerin auf und verzog ihren Mund zu einem bösen Grinsen. »Hat seine Frau nicht so behandelt wie es sich gehört.«
Da ihr Blick eine Reaktion forderte, hob Wenzel beide Hände empor, um seine unberingten Finger zu zeigen. »Kann mir nicht passieren.«
Ihr Grinsen wurde zu einem feinen, unschuldigen Lächeln. Sie hob wortlos ihre linke Hand. Kein Ring war zu sehen. Doch zwischen Zeige- und Mittelfinger hing ein blitzendes Skalpell. Sie ließ es leicht schwingen, indem sie die beiden Finger leicht bewegte und sagte: »Mir auch nicht.«
Trotz der Kühle im rundum gefliesten Raum wurde es Wenzel warm. Sehr warm.
*
Laurenz Brender hatte den Vormittag über telefoniert. Seine Stimme klang dynamisch und er hatte sich einige witzige Bemerkungen überlegt, um Lockerheit vermitteln zu können. Am jeweils anderen Ende war alles andere als Lockerheit zu verspüren. Hinter den giftigen Forderungen spürte er die Angst derjenigen, mit denen er sprach. Die Angst um den eigenen Status. Es machte ihn sicherer, das Wissen darum, dass er nicht alleine war mit seiner Unsicherheit.
Er sah voller Abscheu auf die Bücherwand, versuchte einige der Titel zu entziffern, ließ es aber bald bleiben. Ein paar von den alten Schinken hatte er bereits verhökert. Das konnte Mutter nicht kontrollieren. Die Bilder hätten sicher mehr Kohle gebracht, aber es war zu auffällig. Fehlende Buchrücken fielen weit weniger auf. Er hatte den Typen, der die Bücher gekauft hatte, nicht leiden können. Es lag daran, dass der gegrinst hatte, als er gemerkt hatte, unter welchem Druck er stand.
Von oben aus hörte er die brüchige Stimme seiner Mutter: »Junge!« Sie rief immer noch Junge und er hasste sie dafür. Ja, er gestand es sich ein, sie dafür zu hassen. Ein solcher Gedanke war ihm bisher fremd gewesen. Doch jene Nacht im Wald, als er die Gestalt am Feuer beobachtet hatte, voller Angst und doch voll Gier, an ihrem Treiben teilzuhaben, seit jener Nacht hatte sich viel für ihn verändert, war er ein anderer geworden, redete er sich ein. Stärker, unnachgiebiger, durchsetzungsstärker.
Er wälzte sich aus dem alten Ledersessel und äffte auf dem Weg nach oben ein Junge nach.
»Warum kommt denn Frau Sälzle nicht mehr, Junge?«
Er sah hinüber zu den Schweizer Bergen, die nur schemenhaft erkennbar waren. Dunst verhinderte den freien Blick. »Frau Sälzle hat Urlaub«, log er.
»Aber sie hat doch davon gar nichts erzählt. Sie fährt mit ihrem Mann doch immer erst nach den Sommerferien nach Ungarn. Das war jedes Jahr so. Und gibt es denn keine Vertretung? Ruf doch mal bei der Sozialstation an, Junge. Das geht doch nicht.«
Er war schon wieder auf dem Weg nach unten. Der herrische Unterton in ihrem Klagen nervte ihn, weil er eine Unnachgiebigkeit ausstrahlte, vor der er schon immer Angst gehabt hatte. Er setzte Wasser für einen Tee auf, obwohl es unerträglich heiß war. Aber das hatte er in Asien gelernt, wie erfrischend ein heißer Tee in der Hitze sein konnte. Gerade als der den Tee aufgießen wollte, klingelte es an der Haustür. Überrascht ging er nachsehen – ein wenig erschrocken, als er Doktor Geeres erkannte. Er mochte den Hausarzt nicht, von dem er wusste, dass er sich seinen Eltern gegenüber schon immer auch zu anderen als medizinischen Dingen geäußert hatte. Er begrüßte ihn ohne große Euphorie, hielt die Tür nur einen Spalt geöffnet.
»Grüß Gott. Ich möchte zu Ihrer
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