Hexenstein
durch die Samthandschuhe hindurch, die man tragen muss. Die Texte in feinster Schrift, viele noch handgeschrieben, dann die Zeichnungen, Initialen, Verzierungen und Illustrationen – vom Künstler direkt auf das Papier gebracht. Und diese Kunstwerke haben Feuersbrünste, Kriege, Unwetter und nicht selten unfähige Bibliothekare überstanden; ein solches Buch in der Hand zu halten, bedeutet gefangen genommen zu werden von seiner Aura, von einem Dunst der Geschichte. Es erhebt einen über das überall aufschäumende Mittelmaß unserer Gegenwart.«
Lydia Naber ließ keine Aura an sich heran. »Wir haben keinen Tresor gefunden. Wo wurden diese wertvollen Bücher denn aufbewahrt?«
»Es gibt keinen Tresor. Die Bücher lagen ganz normal im Schrank, oben in der Werkstatt.«
Lydia Naber schüttelte ungläubig den Kopf. »Ganz schön gefährlich, wenn man mit derartigen Kunstwerken zu tun hat, oder?«
Schulterzucken.
»Ich weiß … unbezahlbar und so, aber was ist so ein Buch denn wert, wenn man es in Geld ausdrücken wollte?«
Ganz kurz nur zog Nora Seipp die Mundwinkel zusammen, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass der Wert dieser Bücher in Geld überhaupt nicht aufzuwiegen war. Dann sagte sie: »Es gibt einen Markt für alte Bücher. Einige Privatsammler, die sich das leisten können, investieren in eine Bibliothek. Die meisten von denen haben einen bestimmten Bereich, zum Beispiel frühe naturwissenschaftliche Bücher mit Darstellungen von Pflanzen und Tieren, im weitesten Sinne eben. Wenn Sie es in Geldbeträgen ausgedrückt haben wollen, dann gelten wohl die Summen, die auf diesem Markt üblich sind. Die Bücher in der Werkstatt Kohn lagen so zwischen dreitausend und siebzigtausend Euro. Ein paar Exemplare wurden auch darüber gehandelt.«
Lydia Naber nahm das Gehörte ohne sichtbare Regung zur Kenntnis und wechselte das Thema. »Wie gut kennen Sie sich im Haus aus?«
»Ich bin dort ein und aus gegangen.«
»Der Verschlag unter der Treppe. Wussten Sie von dem?«
»Ja. Da waren ab und zu Materialien gelagert. Leder, Klebstoffe, Holz, Papier. In den Kartons, in denen das Zeug angeliefert wurde. Ich habe da manchmal was holen müssen und Frau Kohn wollte keine Kartons irgendwo in der Wohnung herumstehen lassen.«
»Mhm. Waren Sie auch im Keller?«
Nora Seipp lachte still. »Nein. Das nun nicht.«
Lydia Naber lächelte professionell. Soeben war ihr beherrschtes Gegenüber zum zweiten Mal mit der Handfläche über die Tischplatte gefahren. Nur ein kleines Stück, aber immerhin eine Auflösung ihrer so konzentrierten Haltung. Zuvor war es schon einmal geschehen. Bei der Frage, ob die Bücher wertvoll oder von besonderer Bedeutung waren.
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wo Frau Kohn sein könnte?«
Es dauerte einen Augenblick, bis die Antwort kam. Ein langes, noch vom Nachdenken über die Frage gedehntes »Neiiin. Ich habe wirklich keine Ahnung. Wir hatten … ich beziehe mich auf das Verhältnis zwischen mir und dem Ehepaar Kohn … ein rein geschäftliches Verhältnis. Privates fand darin nicht statt, nicht in Gesprächen, keine Treffen und so.«
»Das klingt sehr distanziert«, stellte Lydia fest, »und ganz anders, als ich mir das Verhältnis zwischen Menschen vorstelle, bei welchem der eine beim anderen ein und aus geht, die gleiche Leidenschaft für Bücher teilt.«
»Ja, gut. Sie müssen wissen – die Kohns haben sehr zurückgezogen gelebt. Wenig Kontakte. Sie hatte ihre eigene, kleine Welt. Es war eben ihre Art zu leben.«
»Eine Welt, in der alles seine Ordnung hatte.«
»Ja. Ordnung. Die war wichtig – für beide.«
»Kennen Sie Freunde oder Bekannte der Kohns?«
»Oh. Da gibt es wenige Menschen. Ich weiß nur von einem Ehepaar, mit dem sie ab und an einmal abends weggegangen sind. Theater, Konzerte und so. Ich glaube Heimer oder so hießen die. Er fuhr so einen Geländewagen, einen Volvo.«
Lydia notierte das mit dem Volvo. »Mhm. Und literantik, sagt Ihnen das etwas?«
Nora Seipp nahm den Arm vom Tisch und legte ihn locker, zusammen mit dem anderen in ihren Schoß, wo sich beide Hände falteten. »Aber sicher kenne ich literantik. Eine schweizerische Agentur und einer der größten Kunden von Herrn Kohn. Diese Agentur vertritt mehrere Bibliotheken und Privatsammlungen. Sie organisiert die Restaurierung von Büchern, Auktionen, Ausstellungen – das ganze Programm eben. Der Chef heißt Brüggi und macht am liebsten alles selbst. Ist immer mit so einem großen schwarzen Auto
Weitere Kostenlose Bücher