Hexenstein
Mutter«, überraschte ihn der Doktor. Er war auf diese klare Forderung nicht eingestellt. Er hasste diese Menschen, die so klar sagten, was sie wollten und damit anscheinend gut durchs Leben kamen. Im gleichen Moment fiel ihm ein, dass es genau diese Klarheit war, die ihm fehlte, deren Abwesenheit ihn in die Situation gebracht hatte, in der er war. Er hatte nie gewusst, was er selbst wollte. Und jetzt! Jetzt war er nicht einmal der verlorene Sohn, der wieder zu Hause aufgenommen wurde, nachdem er …. Pech … gehabt hatte. Nein. Er hatte keine Konkurrenz, denn er war das einzige Kind.
»Alles in Ordnung?«, fragte Doktor Geeres und das Bittere daran war für Laurenz Brender, dass die Nachfrage einzig seiner Mutter galt.
»Es ist alles in Ordnung mit meiner Mutter«, hörte er sich sagen, »sie braucht keinen Arzt, hat auch keinen gerufen.«
»Ihre Mutter hat mich nur selten gerufen. Ich schaue regelmäßig bei meinen Patienten vorbei, wenn sie nicht mehr in die Praxis kommen können. Ich weiß, dass passt nicht mehr in diese Welt, aber ich komme damit ganz gut zurecht. Ich würde sie also gerne sehen. Frau Sälzle hat mir außerdem erzählt, dass Sie den Vertrag mit der Sozialstation gekündigt haben.«
»Ich bin auf der Suche nach einer ganztägig anwesenden, privaten Pflegeschwester«, sagte Laurenz Brender und freute sich für die fantastische Idee, die ihm so schnell in den Sinn gekommen war.
»Ich weiß, dass meine Mutter an Frau Sälzle hängt, ich halte aber eine ganztägige Betreuung für besser.«
»Gut«, sagte Doktor Geeres, und ließ seine Unzufriedenheit spüren. »Sie möchten also nicht, dass ich als Hausarzt Ihre Mutter besuche.«
Laurenz Brender öffnete die Türe. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren Schwierigkeiten mit diesem Doktor. Er sah der Gestalt nach, die wie selbstverständlich durch den großen Raum eilte und auf der Treppe nach oben verschwand. Es wirkte so, als wäre dieser Doktor hier mehr zu Hause als er selbst. Er blies mit einem lauten, hässlichen Geräusch die angestaute Luft durch die Zähne.
Er musste diese Gestalt wiedersehen. Sie verlieh ihm die Kraft, die er für das, was er tun musste, brauchte. Das schale Gefühl, welches ihn so sehr ermattete, schob er von sich weg. Es bewirkte, dass er sich selbst schmecken konnte – dieses trübe Wissen, dass er nichts aus eigener Kraft vollbringen konnte, sich immer am Willen anderer fortbewegte.
*
Lydia Naber saß im Vernehmungsraum, zusammen mit Nora Seipp, einer durchweg beeindruckenden Person, die sich Lydia Naber anhand dessen, was sie zuvor von ihr erfahren hatte, ganz anders vorgestellt hatte. Irgendeine junge Frau eben, mit roten Haaren. Ihre Vorstellung war gesichtslos geblieben, exemplarisch, wie aus der Ferne. Sie verband Jeans, T-Shirt und Sandalen mit ihrem schemenhaften Bild.
Robert Funk hatte Nora Seipp im Vernehmungszimmer warten lassen, und dort war Lydia Naber einer groß gewachsenen Mittdreißigerin begegnet, die einen schwarzen, weiten Hosenanzug trug. Über der hellen Bluse pendelte eine goldene Kette mit großen Gliedern. Es musste ein leichter Stoff sein, denn schon bei der geringsten Bewegung wurde das Gewebe in anmutige Bewegungen versetzt und im Faltenspiel schimmerte das Licht. Auf den Schultern ruhten die spannungsgeladenen Enden einer roten, lockigen Pracht und auch ihre Körperhaltung verriet Spannung. Das helle Gesicht war ernst, und dies nicht nur des Anlasses wegen.
Sie saßen sich über die Ecken des Tisches gegenüber, was vermied, sich während des Gesprächs ständig ansehen zu müssen. Es war schließlich ein Gespräch und keine Vernehmung. Lydia Naber wusste, dass Robert Funk die Personalien bereits aufgenommen hatte und verzichtete auf die formellen Fragen zur Person. Nora Seipp hatte eine ganze Weile schweigend am Tisch gesessen, nachdem sie von Lydia Naber erfahren hatte, was passiert war. Die registrierte professionell beiläufig, dass ihr Gegenüber äußerlich völlig ruhig blieb. Nur einmal während ihrer Schilderung hatte sie eine heftige Reaktion gezeigt und Lydia Naber ungläubig angesehen. Es war, als diese davon berichtete, wie und wo sie Gundolf Kohn aufgefunden hatten. Ansonsten zeigte die Frau ihr gegenüber keinerlei emotionalen Ausbruch. Nora Seipp saß etwas schräg am Tisch, ihr zugewandt, mit ihrem rechten Ellbogen auf der Tischplatte. Die flache Hand mit den langen Fingern lag ruhig auf dem hellen Resopal, so als müsste sie das Möbel beschwichtigen. Im
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