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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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einen bestimmten Grund, dich auszuwählen.«
    »Genau. Ich war derjenige, weil ich war, wer ich war. Ich weiß, es klingt wie das Gerede eines Schizophrenen, der Stimmen hört, die ihm auftragen, die Welt zu retten. Aber genau so war es.«
    »Und woran kannst du dich sonst noch erinnern?«
    Er zögerte.
    »Da war etwas mit einer Pforte oder einer Tür«, sagte er. »Ich könnte schwören… Aber ich weiß es einfach nicht mehr. Meine Erinnerung wird immer brüchiger. Aber ich weiß, daß eine Zahl im Spiel war. Und ein Edelstein. Ein wunderschöner Edelstein. Aber beschwören könnte ich nicht einmal das. Es ist inzwischen eher so etwas wie ein Glaube geworden. Ich glaube, daß alle diese Dinge in meinen Visionen vorkamen. Und das Ganze hat damit zu tun, daß ich nach Hause fahren muß, daß ich dort etwas ungeheuer Wichtiges erledigen muß. New Orleans ist ein Teil davon, und auch diese Straße, in der ich als Kind spazieren ging.«
    »Eine Straße?«
    »Die First Street. Ein wunderschönes Stück, von der Magazine Street in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, bis hinüber zur St. Charles Avenue. Ungefähr fünf Blocks, in einem alten Teil der Stadt, der Garden District heißt.«
    »Wo die Hexen wohnen«, sagte sie.
    »Ja, richtig, die Hexen vom Garden District«, sagte er grinsend. »Sagte jedenfalls Schwester Bridget Marie.«
    »Ist es eine düstere Hexengegend, diese Straße?« fragte sie.
    »Nein, das eigentlich nicht«, antwortete er. »Aber es ist wie ein dunkles Waldstück mitten in der Großstadt. Große Bäume, Bäume, wie du sie dir nicht vorstellen kannst. Und die Häuser sind Stadthäuser, weißt du – dicht am Gehweg, aber so groß und mit einem großen Garten drum herum. Und da ist dieses eine Haus, das Haus, an dem ich immer vorbeikam, ein hohes, schmales Haus. Ich blieb jedesmal stehen und schaute es mir an, schaute mir den Eisenzaun an. Da ist ein Rosenmuster in dem Eisenzaun. Das sehe ich jetzt immer wieder – seit dem Unfall -, und dann denke ich immer, ich muß zurück, weißt du, ganz dringend. Sogar jetzt, während ich hier sitze, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht im Flugzeug bin.«
    Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Ich möchte, daß du eine Weile hier bleibst.« Ihre wunderbare dunkle rauchige Stimme. »Aber es ist nicht nur, daß ich es möchte. Du bist nicht gut in Form. Du brauchst Ruhe, und zwar richtige Ruhe ohne Alkohol.«
    »Du hast recht, aber es geht nicht, Rowan. Ich kann diese Spannung nicht erklären, aber ich werde sie spüren, bis ich zu Hause bin.« Er lachte. »Ich bin zu lange im Exil gewesen. Das wußte ich schon vor dem Unfall. An jenem Morgen – es war wirklich zu komisch, aber ich bin aufgewacht und dachte an zu Hause. Ich dachte daran, wie wir alle zur Golfküste hinunter fuhren; es war warm, als die Sonne unterging, richtig warm…«
    »Kannst du denn das Trinken lassen, wenn du hier wegfährst?«
    Er seufzte, und mit Absicht schenkte er ihr sein strahlendstes Lächeln – die Sorte, die ihm in der Vergangenheit immer die besten Dienste geleistet hatte – und zwinkerte ihr zu. »Willst du irische Sprüche hören, Lady, oder die Wahrheit?«
    »Michael…« Es lag nicht nur Mißbilligung in ihrer Stimme; es war Enttäuschung.
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Alles, was du sagst, stimmt. Schau, du weißt nicht, was du für mich getan hast – allein dadurch, daß du mich aus diesem Haus geholt und mir zugehört hast. Ich will ja tun, was du sagst…«
    »Erzähle mir mehr von diesem anderen Haus«, sagte sie.
    Wieder wurde er nachdenklich, ehe er antwortete. »Es war der ›Greek Revival‹-Stil – aber es war doch anders. Es hatte Veranden vorn und an den Seiten, echte New-Orleans-Veranden. Es ist schwer, ein solches Haus jemandem zu beschreiben, der noch nie in New Orleans gewesen ist. Hast du schon mal Bilder gesehen…?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das war ein Thema, über das Ellie nicht reden konnte.«
    »Das klingt bitter, Rowan.«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Nein, wirklich.«
    »Ellie wollte gern glauben, daß ich ihre Tochter sei. Wenn ich nach meinen biologischen Eltern fragte, glaubte sie, ich sei unglücklich, und sie liebe mich nicht genug. Es war sinnlos, zu versuchen, ihr diese Gedanken auszureden.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Bevor sie das letztemal ins Krankenhaus kam, verbrannte sie alles, was in ihrem Schreibtisch war. Ich hab’s gesehen. Sie hat alles da im Kamin verbrannt. Photos, Briefe, alles. Sie wußte,

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